Sonntag, 20. November 2011

Mister Pip

Ein kleiner Roman über ein junges Mädchen auf einer entlegenen Pazifikinsel, die dort Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts in einer derart altertümlichen und einsamen Gesellschaft lebt, von der wir alle gar nicht dachten, dass es diese überhaupt noch gibt. Für uns scheinen in dem kleinen Dorf paradiesische Zustände zu herrschen: Jeden Tag Sonne, Strand und Meer, Wasserfälle, ausreichend Süßwasserbäche, Früchte und Fisch so viel man zum Leben braucht. Auch für die schwarze Bevölkerung gibt es an der Eintönigkeit ihres Lebens, dass ihnen so viel wertvoller und sinnreicher vorkommt, als das der Weißen, nicht viel auszusetzen. Zumindest war das so, bevor die Rebellen anfingen, gegen die schlimmen Zustände in der Kupfermine aufzubegehren, bevor die Rothäute (eine Armee einer benachbarten Insel) kamen, um Dörfer abzubrennen, Menschen zu morden und die Insel komplett zu blockieren.

Der einzige verbliebene Weisse (Missionare, Lehrer, Krankenschwestern gibt es längst nicht mehr), ein skuriler Typ, der manchmal mit einer roten Clownsnase im Gesicht einen Wagen durch's Dorf zieht, auf dem seine einheimische Frau thront, woran schon längst niemand mehr Anstoß nimmt, macht es sich zur Aufgabe, den Kindern des Dorfes in dieser Situation durch Schulunterricht die Eintönigkeit ein wenig zu lindern und ihnen dabei seine Lebenserfahrungen nahezubringen. Dies tut er nicht in Form des klassischen Schulunterrichts sondern auf zweierlei Art: Er bittet die Mütter, Tanten und Großmütter der Kinder in das Schulhaus, damit diese den Kindern ihre wichtigsten Lebensweisheiten mitteilen. So erfahren diese vom Leben und Werden des Herzsamens (ein gutes Mittel gegen die Moskitos), dass man einen Tintenfisch tötet, indem man über den Augen in ihn hineinbeißt, wie die Krabben am Strand das Wetter vorhersagen, von den unterschiedlichsten Winden, die es auf der Insel gibt (der Lieblingswind der darüber berichtenden Frau heißt "Frauensanft"), dass der Glaube wie Sauerstoff sei und dass der Farbe Blau Zauberkräfte innewohnen (schließlich verwandle sie sich beim Auftreffen auf ein Riff in die Farbe Weiss). Aber ergänzend zu diesen, auf traditionelle Weise weitergegebenen und für das Überleben auf solch einem Flecken Erde sicherlich nützlichen Dingen, bestand der Unterricht darin, dass der Lehrer Mr. Watts den Kindern aus Charles Dickens' Roman "Große Erwartungen" vorlas. Und sie damit in eine Welt entführte, von der sie bisher überhaupt nichts ahnten. Hier konnten sie Zuflucht in einem anderen Land suchen und so ihren Verstand retten. Alle Kinder hingen Mr. Watts an den Lippen aber insbesondere Mathilda war so begeistert vom Leben des Pip, der Ende des 19. Jahrhunderts in England vom Waisenjungen, der all seine Liebe der kalten Estrella vor die Füße legte, zu einem Leben in Reichtum und Laster verführt wurde. Pip wurde Mathildas bester Freund, sie identifizierte sich so stark mit ihm, dass sie seinen Namen mit Herzmuscheln im Sand abbildete und in Gedanken nur noch bei ihm war. Was einerseits ihrer Mutter, einer sehr gläubigen Frau, auf- und missfiel und andererseits den Rothäuten, die auf der Suche nach Rebellen mit Hubschraubern ins Dorf kamen und Mathildas "Schrein" im Sand erblickten. Sie wollten diesen Mr. Pip unbedingt finden, konnten jedoch nur dessen Schöpfer, Mr. Dickens, in Wirklichkeit der weiße Lehrer, auftreiben. Ein Mißverständnis, dem anfangs alle Habseligkeiten der Dorfbewohner, später deren Häuser und zuletzt auch das Leben eines Jungen, des Lehrers und Mathildas Mutter zum Opfer fielen. Müßig darüber nachzudenken, dass letztendlich Mathildas Mutter selber, die sich mit Mr. Watts wegen dessen atheistischer Einstellung überworfen hatte, Schuld an dieser ganzen Misere war, da sie den einzigen Beweis dafür, dass Mr. Pip nur eine Romanfigur, jedoch keiner der Rebellen war, im Form des Buches aus der Schule gestohlen hatte.

In den wenigen Wochen aber, in denen die Kinder in die Welt des Mr. Pip eintauchten, lernten sie für's Leben. Wie dieser so hatte auch Mr. Watts eine gänzlich andere Welt hinter sich gelassen. Zwei (Häuser, Menschen, Länder, ...) sind nie dieselben. Man gewinnt beim Verlieren und umgekehrt. 

Die Kinder erlebten zum ersten mal (und viele von ihnen sicherlich zum einzigen mal), was Literatur für unser Leben bedeuten kann, dass es Zauberei gleich kommt, wenn ein kleines schwarzes Mädchen in die Haut eines anderen schlüpfen kann, sogar wenn diese weiß ist und einem Jungen gehört.

Auch für uns, die wir mit der Lust am Lesen und der Befriedigung, die sich unserer durch das Erleben von und das Eintauchen in die Literatur bemächtigt, vertraut sind, hält dieses kleine große Buch einige wichtige Wahrheiten bereit:
Man glaubt gar nicht, wie wichtig und notwendig eine Haarbürste und eine Zahnbürste sind. Man merkt nicht, was ein Teller oder eine Schale Wert sind, bis man keine mehr hat. Andererseits war uns neu, was man mit einer einzigen Kokusnuss alles machen kann.

Und auch folgende Erfahrung, die die Dorfbewohner machten, als die lange erwarteten Rothäute dann "endlich" wieder auftauchten, um mit ihren Machten den Lehrer zu zerstückeln, kommt uns, allerdings in anderen Zusammenhängen, sehr bekannt vor und gilt für fast alle Lebensbereiche:
Es gibt Tage, an denen die Feuchtigkeit steigt und steigt und immer schwerer wird, bis sie schließlich niederbricht. Dann regnet es, und man kann wieder atmen.

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