Freitag, 21. Oktober 2011

Der Pianist

Dieses Buch zu rezensieren steht mir nicht zu, niemand sollte sich über Schreibstil und „story“ dieser bekannten und wahren Geschichte auslassen. Wohl aber darf und soll man sie denen nahe bringen, die weder dem bekannten Film zum Buch von Roman Polanski noch dieser Autobiographie selbst bisher Beachtung schenkten.

Weitaus wichtiger und spannender erscheint es mir, die Gedanken und Lehren des Wolf Biermann ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen, die dieser tragischen und doch für das letzte Jahrhundert typischen Geschichte hintenan stehen.

Der polnische Pianist Wladyslaw Szpilman, jüdischer Herkunft und in Warschau lebend, hat sein Überleben (und gleichzeitig das Sterben der Seinen) sofort nach dem Krieg niedergeschrieben, was eine außerordentliche und mutige, gleichwohl sehr erfolgreiche Art und Weise der Verarbeitung des Erlebten widerspiegelt.

Wie schon erwähnt, werde ich an dieser Stelle keine grausamen Details dieses extrem harten und letztendlich erfolgreichen Kampfes gegen die Deutschen (Jawohl, gegen die Deutschen, denn gegen unsere Großväter musste er um sein Leben kämpfen und ebendiese Großväter nahmen selbiges seinen Eltern, Geschwistern, Freunden und vielen anderen Millionen Menschen auf unbeschreiblich brutale Art und Weise) nacherzählen. Dieses Buch muss man einfach selbst lesen!

Gutbürgerlichen Verhältnissen entstammend studierte Szpilman 2 Jahre lang im Vorkriegs-Berlin, was ihn dazu verleitete, all die schlimmen Vorboten so lange es ging zur Seite zu drängen und nicht wahrhaben zu wollen, dass ebendiese Deutschen, die so wunderbare Kunst und Musik hervorbrachten, tatsächlich mordend und rücksichtslos Jagd auf Juden machen würden. Aber vielleicht war gerade diese Einstellung der Schlüssel zum Überleben. Er floh nicht, wie viele Freunde, aus Warschau, als die Deutschen die Stadt einzunehmen drohten, er ließ sich mit einer halben Million Menschen im Getto einsperren (im Übrigen für mich erneut Grund genug, diese Bezeichnung niemals mehr für Neubaugebiete europäischer Großstädte, die evtl. einen großen Prozentsatz ausländischer Bewohner beherbergen, zu benutzen), er versteckte sich nicht vor der jüdischen Polizei, als diese sein Haus leerte, um alle Bewohner zum Umschlagplatz zu bringen. Dass er dort dann zufällig kurz vor dem Einstieg in die berüchtigten Waggons zurückgepfiffen wurde, kann man Schicksal oder Zufall nennen, für ihn war dies der Moment, wo er anfing, mit allen Mitteln um sein Überleben zu kämpfen. Wo er sich in den folgenden 3 Jahren überall versteckte, was er erlitt, wie er dem Hunger, der Kälte, der Langeweile trotzte, kann man detailliert und plastisch selbst nachlesen. Wie oft er dabei dem Tod von der Schippe sprang, welchen Mut er bewies und wie er am Ende dann durch einen kleinen Fehler seinerseits fast noch von einem polnischen Soldaten erschossen worden wäre, geht einem unheimlich nahe. Versuche man doch einmal, nur einen Tag so zu verbringen, wie er viele Monate hinweg mit knurrendem Magen und erbärmlich frierend seinen Geist und seinen Körper am Leben hielt: Stundenlang ging er in Gedanken Takt für Takt alle Partituren durch, die er je gespielt hatte, rief sich alle je gelesenen Bücher detailliert in Erinnerung und gab sich selber Englischunterricht. Ja, Zufall mag es gewesen sein, dass gerade Szpilman überlebte aber es gehörte eben auch ein unheimlich wacher Geist und eine riesige Portion Willen dazu, den wohl nur Wenige aufzubringen in der Lage sind.

Versöhnlich mutet es dann an, dass der Pianist gegen Ende des Krieges gerade durch einen deutschen Offizier gerettet wird. Traurig hingegen, was man in Biermanns Erläuterungen dann zum Tod des Deutschen lesen muss, der nicht „nur“ einen Juden sondern derer mehrere im Verlauf des Krieges gerettet hatte. Aber so ist das eben, wenn man eine reale Geschichte liest. Diese endet eben, wie das Leben im Allgemeinen, nicht in jedem Fall mit einem Happy End, wie es die sogenannten Bestseller oft abbilden.
Nicht weniger eindrucksvoll sind die ebenfalls abgedruckten Tagebuchauszüge des Wilm Hosenfeld, die dieser im Übrigen mit der Wehrmachtspost während des Krieges zu seiner Familie schickte. Ein wirklich bedeutender, jedoch kein im wahrsten Sinne des Wortes „wahnsinnig“ mutiger Mann wird uns hier nähergebracht, von dessen Schlage es einiger mehr bedurft hätte, diesen Wahnsinn im Keime zu ersticken.

Nun aber zu Wolf Biermanns 49 außerordentlich klugen Anmerkungen, bzw. einer kleiner Auswahl daraus

Den Warschauer Getto-Aufstand und dessen mutige Kämpfer betrachtend stellt Biermann fest: Es gibt keine Opfer erster und zweiter Klasse. Ob einer … in der Gaskammer starb oder … mit der Pistole in der Hand… wer will da eine moralische Rangliste behaupten? Und erst hier, als Biermann es noch einmal explizit erwähnt, wird dem Leser bewusst, dass auch Szpilman, der nicht gerade aufmüpfige und durch seinen Mut und seine Opferbereitschaft auffällige Pianist, einer der Helden des Aufstandes ist, da er sein Leben riskierte, als auch er Waffen ins Getto schmuggelte. Doch diese Tat stellt er nicht zur Schau, er erwähnt sie nebenbei. Was für eine Leistung, wo es doch in solch einer Situation, die wir uns nie vorstellen könnten, nur allzu menschlich wäre, an sich und nur an sich zu denken, an das eigene Überleben. Wie viele ungezählte Helden haben diesen Aufstand unterstützt, und doch, auch diejenigen, die nicht den Mut oder die Kraft dazu hatten, sind heldenhaft aber so entsetzlich sinnlos gestorben.

Wohltuend auch Biermanns Feststellung, dass zwar im Regelfall ein Lump auch im Gefängnis oder Getto einer bleibe, dass es aber etliche vormalige Ganoven gab, die im Getto oder Lager tapferer und hilfreicher waren, als allerhand gelernte gutbürgerliche Edelmenschen. Welche er allerdings nicht im Geringsten verurteilt, auch Biermann stünde das, wie keinem von uns, zu. Er schreibt nur: Den Obermoralisten will ich sehn, der Genugtuung daraus zieht, dass auch all diese abstoßenden Überlebenskünstler (hier meint er insbesondere die Kolloborateure, die Profiteure und Schergen der jüdischen Polizei, Spitzel usw.) am Ende in den Massengräbern landeten. Nicht SIE waren in irgendeiner Weise „Schuld“ an ihrem Unglück und dem ihrer „Opfer“, nein, andere haben sie dazu getrieben, so zu werden, wie sie waren und auf ihre Art ums Überleben zu kämpfen. Das sollte uns immer wieder bewusst sein!

Eine sehr interessante Frage auch, die Biermann seziert, ist die nach Geschehenlassen und Hoffen versus Auflehnung und Kampf. Auf dem Umschlagplatz, kurz vor der Deportierung, diskutiert Szpilmans Vater mit einem befreundeten Zahnarzt, warum sich die halbe Million Menschen im Getto nicht auf die Deutschen stürzt und das Getto sprengt oder wenigstens so stirbt, dass sie nicht zum Schandfleck der Geschichte wird. Der Vater des Autors, der kurz danach sterben wird, entgegnet, dass sie keine Helden seien und das Risiko vorziehen, auf die zehn Prozent Lebenschance zu hoffen, die mit dem Abtransport verbunden ist. Biermann dazu: Zahnarzt und Vater Szpilman haben beide recht. Recht hat er!
Es gibt nun mal unzählige Situationen, auch wenn sie dieser Tragik vollkommen entbehren und nicht im Geringsten mit der Entscheidung der jüdischen Gettobevölkerung zu vergleichen, sehr wohl aber für den Einzelnen oft entscheidend für den weiteren Lebensweg sind, für die kein „Richtig“ oder „Falsch“ gilt. Wenn man trotz vielfacher Versuche und Imaginationen nicht abschätzen kann, was einen nach einer bestimmten Entscheidung erwartet, kann man eben auch die falsche treffen. Oder gar keine. Was unter Umständen auch eine Art Entscheidung sein kann. Es gibt Momente oder Situationen, wo alles Abwägen von Fakten und Durchspielen von Szenarien nicht zum Ergebnis führt oder wo die Vor- und Nachteile der verschiedenen Wege nicht klar gegeneinander ausgespielt werden können. Dann bleibt einem immer noch die Hoffnung, von der Nietzsche zwar behauptet, dass sie das übelste aller Übel sei, weil sie die Qual der Menschen verlängere, was uns jedoch nicht davon abhalten sollte, diese immer in uns zu bewahren. Der beste Gegenbeweis zu Nietzsches Theorie ist die Hoffnung der jüdischen Waisenkinder, als diese singend (!) und fröhlich (!) hübsch angezogen in die Waggons kletterten, da ihnen der unglaublich starke und wirklich heldenhafte Janusz Korczak bis zuletzt vorgegaugelt hatte, dass sie nun endlich ins gelobte Kinderland fahren würden, wo Milch und Honig fließen. Kann man sich vorstellen, wie viel Kraft dazugehört, den fast verhungerten Kindern auf ihrem letzten Weg eine solche Illusion einzugeben, wohl wissend, dass nicht nur sie sondern man selbst auch seine letzten Stunden auf dieser Erde erlebt?! Aber welchen Wert diese Hoffnung für die Kinder hatte, eben weil sie deren Qualen nicht verlängerte, sondern ihnen im Gegenteil die Angst vor dem nahm, was auf sie zukam! Von solchen Heldentaten zu erfahren lässt auch mich hoffen…

Montag, 17. Oktober 2011

Wirst Du da sein?

Genauso hatte ich es mir gedacht, während ich das, zugegeben, teilweise interessant und spannend geschriebene Buch über eine Zeitreise las: Ein sogenannter Bestseller, schnell zu lesen und für ein Massenpublikum gedacht. Das war mir so gar nicht klar gewesen, als ich das Buch in der Bibliothek einsammelte, ohne dass es auf meiner Empfehlungsliste gestanden hätte. Erst nach Beendigung der Lektüre las ich, dass dieser Roman wochenlang auf der französischen Bestseller-Liste gestanden hatte.

Ist die Liebe stärker als der Tod? prangt in dicken Lettern auf dem Buchrücken, und wer die 300 Seiten gelesen hat, kann nun seufzend wünschen, auch er oder sie könnte nicht nur Reisen in die Vergangenheit unternehmen sondern dort auch Schicksal spielen.

Und da kommen wir eigentlich auch schon zum Kern meiner Kritik (die in diesem Fall tatsächlich den touch von etwas Negativem hat): Wirst Du da sein hat leider nicht diese subtile, feinfühlige und hintergründige Art, die mir an der Frau des Zeitreisenden so gut gefallen hat, durch die man immer wieder zum Nachdenken und Zurückblättern angeregt wurde. Nein, auch wenn es der Autor vortäuscht, er hat sich nicht wirklich mit den Finessen und Widersprüchen, die eine Zeitreise mit sich bringt, beschäftigt. Stattdessen versucht er, dem Leser mit ein paar Sätzen aus Wikipedia zum Thema Schlaf und Traum kurz zu erklären, wie es gelingen kann, durch Schlucken einer kleinen Pille für kurze Zeit 30 Jahre zurückzureisen.

So nämlich macht es der krebskranke Arzt Elliot, der sich seit dem Tod seiner großen Liebe Ilena große Vorwürfe macht und nicht so recht glücklich werden will, obwohl er doch alles hat, was er zum Glücklichsein braucht (Haus, Auto, Weingut, Tochter, Erfolg im Beruf… - also nur wenig mehr, als das, was auch uns nicht zum Glücklichsein reichen will). Er nimmt die kleine Tablette und begegnet kurz darauf seinem um 30 Jahre jüngeren ICH, wobei es dabei fast zu einer Schlägerei kommt, weil man sich nicht kennt und auch nicht über den Weg traut. Durch Nasenbluten kündigt sich nach 20 Minuten das Ende dieser Reise an (wie originell!) aber zum Glück gibt es ja insgesamt 10 von diesen Wunderpillen. Aber nur 9 Zeitreisen, die Elliot unternehmen muss, um dem jungen Arzt zu helfen, Ilena vor einem grausamen Tod im Orca-Schwimmbecken zu bewahren. Dumm nur, dass diese beschließt, sich stattdessen von der Golden Gate Bridge zu stürzen, nachdem Elliot Ihr auf Geheiß des Älteren den Laufpaß gibt. Denn der alte Elliot will keinesfalls auf Entstehung und Geburt seiner wunderbaren Tochter Angie verzichten, die ja nun mal ohne Zutun von Ilena entstanden war. Aber wie es der Zufall so will (bzw. der geniale Autor) trifft man sich im OP-Saal wieder und flickt die Schwerverletzte, die bereits zum zweiten Mal gestorben war, quasi rückwirkend zusammen und ermöglicht ihr nun endgültig das Überleben. Hätte man es damit nicht genug sein lassen können? Nein, das reicht noch nicht. Das Buch sollte ja auch ein Bestseller werden, wozu ja wohl ein ordentliches Happy End gehört!

Aber trotz aller Kritik, nach einem anstrengenden Tag kann man sich schon gut in diese Geschichte vertiefen, auch liest sie sich ganz gut, wenn im Hintergrund ein Fernseher Unruhe verbreitet oder lärmende Kinder im Schwimmbad herumtoben. Und es entspricht ja auch irgendwo unser aller Wunsch, eine einmal gemacht Entscheidung oder einen Fehler zu revidieren und Gott zu spielen. Da kann man dann auch einmal darüber hinweg sehen, dass die Geschichte ein wenig platt wurde, als auf einer Seite der gleiche „Gag“ zweimal gemacht wurde, in dem im Jahr 1976 sowohl der Apple-Computer als auch der damals noch unbekannte Stephen King auftauchen, begleitet von den Zweifeln des jungen Elliot, ob wohl einer von beiden auch in der Zukunft noch bekannt sein würden. Dass dann im gleichen Jahr das Handy des aus dem Jahr 2006 angereisten Alten klingelt und die Mailbox eine Nachricht aus der Zukunft überbringt, ist dann schon wirklicher Dummfang, wissen doch nicht nur die Nachrichtentechniker unter uns, dass es dazu eines realen Funknetzes bedarf.

Gut, wollen wir zum Schluss noch ein paar versöhnliche Töne anschlagen: Jedes Kapitel ist mit einem Zitat einer mehr oder weniger bekannten Persönlichkeit überschrieben, wovon das eine oder andere schon zum Nachdenken anregt bzw. eine Wahrheit mit gut gewählten Worten ausdrückt. Aber keines dieser Zitate entsprang ja auch der Feder des Romanautors. Beispiele gefällig?

Bewahre Dir Deine Träume, Du kannst nie wissen, wann Du sie nach einmal brauchst.

Ich dränge den Tod zurück, indem ich lebe, leide, mich betrüge, riskiere, gebe und verliere.

Man braucht nur wenige Freunde und Bücher, doch die müssen gut sein.

Samstag, 15. Oktober 2011

Gut gegen Nordwind

Mit dem Titel konnte ich genau so wenig anfangen wie die Leser dieses Blogs. Dabei kann es sich ja wirklich um jede Art von Buch, Roman, Krimi, Novelle, Kitsch oder was auch immer handeln. Aber nichts von alldem ist diese Sammlung von Emails. Was? Lauter Emails? Haben wir alle mehr als genug und viel zu viele jeden Tag auf unserem Rechner. Klingt langweilig! Langweilig? Höchst spannend und wirklich eindrucksvoll ist dieses ungewöhmliche Buch. Nichts passiert darin und doch geschieht so vieles:

Zwei Menschen verlieben sich. Ja, zugegeben, dies passiert vielen Glücklichen tausendfach täglich irgendwo auf dieser Welt. Oft spielen mittlerweile auch Emails eine entscheidende Rolle dabei. Doch nach 2 oder drei elektronischen Briefchen mit dem oder der Unbekannten wird in der Realität doch schnell ein Foto ausgetauscht bzw. man trifft sich bald ohne Bildbetrachtung (um es spannend zu lassen). Nicht so in "Gut gegen Nordwind". Hier verliebt sich Leo in Emmi und Emm in Leo ohne dass sich die beiden je gesehen haben, ohne das Aussehen des Anderen zu kennen, ohne zu wissen, was der andere für Kleidung trägt, was er ausstrahlt, wie seine Augen aussehen, ja noch nicht einmal ob er eine Brille trägt oder einen Bart. Geschweige denn, wie er oder sie riecht. Nein, die beiden verlieben sich durch Worte, teilweise sehr offene Worte, teilweise sehr gefühlvolle und intime Worte, teils beileidigte und beleidigende Worte. Wegen eines einfachen Zufalls, durch den sie, die zufällig in der gleichen Stadt leben (noch ein Zufall - aber bedarf es nicht einer Menge Zufälle, damit die richtigen Menschen zueinander finden? Gibt es überhaupt die einzig richtige Paarung zweier menschlicher Geschöpfe? Oder sind diese tausendfach möglich, wären wir alle nicht mit einem anderen Menschen genauso glücklich oder unglücklich, wie wir es sind, wenn andere Zufälle unser Schicksal beeinflußt hätten?), kommen die beiden in Kontakt und bauen diesen schnell aus. Weil beide etwas suchen? Weil beide etwas suchen! Leo sucht einen Weg, um sich endlich irgendwie von seiner Marlene zu lösen, Emmi sucht unbewußt nach ein wenig Spannung neben ihrem Familienleben samt "glücklicher" Ehe. Später wird sie Leo schreiben. Ich bin glücklich verheiratet aber fühle mich unglücklich dabei. Das ist, glaube ich, ein Widerspruch. Der Widerspruch sind Sie, Leo.
Ohne dass die beiden dabei anfangs an körperliche Begehren denken, wird der Wunsch danach bald immer größer und äußert sich am intensivsten, wenn beide ein Glas Wein bzw. Whiskey zusammen trinken. Zusammen? Beide sitzen dabei allein vor ihrem Computer und zeigen dem jeweils anderen in ihren Emails ihre Wünsche ganz offen: Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist Küssen mit dem Kopf".
Und das machen Sie dann auch. Sie küssen sich, virtuell.

Ist es so etwas wie eine Sucht, die die beiden befällt? Eine Sucht nach Emails? Wie soll man sonst beschreiben, was Emmi an Leo schreibt: So beginnt ein guter Tag. Ich mache die Mailbox auf und es leuchtet mir eine Nachricht von Leo Leike entgegen. Gestern: Schlechter Tag. Kein bisschen Mail von Leo. Kein gar nichts. Kein überhaupt nichts. Kein bisschen was von Leo. Was soll aus so einem Tag werden?

Ob die beiden sich treffen, was aus ihrer virtuellen Liebe wird, was die Famile von Emmi dazu sagt, das werde ich an dieser Stelle garantiert nicht darlegen. Dass in diesem angenehm zu lesenden Buch auch einige schöne Wortspiele und Lebensweisheiten per Email ausgetauscht werden, das kann ich hingegen gern verraten. Wer alten Zeiten nachtrauert der ist alt und trauert. Das klingt doch wirklich schön und ist voller Wahrheit.

Vielleicht handelt es sich bei diesem als "Roman" betitelten Buch ja um einen Phantasy-Roman, auch wenn mit "Phantasy" gemeinhin ganz andere Literatur betitelt wird. Ob es uns auch in der realen Wirklichkeit möglich wäre, ein Jahr lang solch intensiven und intimen Kontakt zu pflegen, wie die beiden es tun, ohne der Verlockung nach einem realen Treffen und echten Küssen nachzugeben - das wäre noch zu testen.

Woher der Titel "Gut gegen Nordwind" kommt? Nun gut, es sei an dieser Stelle verraten. Leo gibt Emmi den Ratschlag, sich mit den Füßen zum Fenster hin in ihr Bett zu legen (ihr Mann schläft in einem eigenen!), als diese über den kalten Zug klagt, immer dann, wenn der Wind aus Norden weht.

Sonntag, 9. Oktober 2011

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown

Was für ein wunderbares Buch! Ein richtiger Geheimtip, auch wenn er hiermit öffentlich gemacht wird. Endlich mal wieder eine Geschichte, die mich so richtig begeisterte, welche ich verschlungen habe. Und das Beste daran: Die Erlebnisse des Teddybären Henry N. (wie "nearly") Brown sind nicht etwa erfunden. Nein! Sie wurden dem Chef des Thiele-Verlages direkt vom Bären ins Ohr geflüstert. Und wer die Geschichte(n) liest, wird schnell erkennen, dass es sich keinesfalls um erfundene Begebenheiten handeln kann.

Henry, der 1921 im englischen Bath von Alice genäht wird und von nun an das Geschehen um ihn herum mit großer Intelligenz und sehr viel Einfühlungsvermögen beobachtet (etwas anderes bleibt ihm ja auch nicht übrig), spricht mir immer wieder aus der Seele. Ja, ich fühle mich ihm wirklich seelenverwand. Wie treffsicher, nachdenklich und liebevoll er von seiner 80 Jahre währenden Odysee durch halb Europa berichtet, dabei den Ersten Weltkrieg schrammt, den zweiten direkt beschreibt, die Nachkriegszeit in Deutschland beleuchtet, die Studentenunruhen Ende der 60er hautnah miterlebt, das sozialistische Ungarn besucht und schließlich fast dem Terrorismus-Wahn nach dem 11. September zum Opfer fällt, ist sehr plastisch und kurzweilig als Erstlingswerk von Helene Bubenezer niedergeschrieben worden, die damit ihrem Verleger, der ja kein Schriftsteller ist, einen großen Dienst erwiesen hat. Endlich wird in einem Roman gewürdigt, was Teddybären auf selbstlose Art und Weise für Kinder (aber auch für Jugendliche und Erwachsene!) leisten, in dem sie vor Allem Liebe und Trost spenden. Wie sagt Henry (der natürlich noch etliche andere Namen von seinen zahlreichen Besitzern erhält) doch so schön: "Jede Angst, mit der man mich drückt, ist so durchdringend, wie Furcht nur sein kann. Und von mir wird nicht weniger erwartet, als sie augenblicklich zu lindern und zu trösten. Mit hat nie jemand Theater vorgespielt, niemand hat mir je gefallen wollen (Anmerkung des Rezensenten: Das ist dann wohl das Geheminis der wahren Liebe!!!), niemand hat mich je belogen. Man muß schon ein Bär sein, um ehrliche Antworten zu bekommen - aber getröstet wird man nie."
Fast wäre dem armen Teddy diese unendlich große Liebe dann doch noch zum Verhängnis geworden, als beim Durchleuchten am Flughafen eben diese den Beamten auffiel und sie mit dem Teppichmesser anrückten. Aber das ist fast schon eine andere Geschichte, denn sie bildet sozusagen den Rahmen der Teddybärenreise.

Von Bath ging es mit dem Zug nach London, wo er Alice verloren ging. Henry kam in das große Haus der Zwillinge Lili und Leo Brown, wo er sich nach kurzer Eingewöhnungsphase überaus heimisch fühlte (kann das Zufall sein bei dem Nachnamen?), und mit denen er sogar bis nach New York reiste. Die wildesten Spiele und Erlebnisse hatte er dann mit Robert in Paris, bis die Deutschen einmarschierten von denen ihn einer fand (was den Bären dazu brachte, seine Vorurteile anderen gegenüber gründlich zu revidieren) und mit zu seiner Liebsten nach Deutschland nahm, bevor er nach Norwegen versetzt wurde, wohin der Bär ihn mit Marlenes Hilfe begleitete. Dort freundete sich die kleine Guri mit ihm an, durfte ihn aber nicht behalten, weil er in einem Paket zusammen mit anderen persönlichen Sachen von Fritz zurück nach Deutschland geschickt wurde. Auch dort meinte es das Schicksal während eines alliierten Bomebangriffes leider nicht so gut mit seiner Eigentümerin und so kam er zu deren Verwandschaft auf ein kleines deutsches Dorf, wo er endlich wieder zu Ruhe kommen konnte. Schlimme Zeiten erlebte Henry dann auf einem französischen Weingut, wo er nicht nur hilflos zuschauen mußte, wie seine kleine Besitzerin von ihrem Vater geschlagen wurde sondern wo er selber fast in einem Weinfaß ertrank, was die Mutter von Isabelle, bei der Henry die längste Zeit seines Lebens verbrachte und der er überaus nahe stand, dazu veranlaßte, ihn zu waschen und an den Ohren aufzuhängen (wahrscheinlich liegt in diesem dramatischen Ereignis ein wichtiger Grund meiner tiefen Verbundenheit mit Henry, mußte doch auch ich in meiner Kindheit eines Tages alle meine Kuscheltiere aufgehängt in meinem Zimmer vorfinden, was mich nachhaltig geprägt hat). Für Isabelle hat Henry in Rom als Mon Ami sein größtes Werk der Liebe vollbracht: Hier erkannte ihn der schöne Gianni wieder, als er in die Wohnung der Mädchen-WG kam, in der auch Isabelle ein Zimmer hatte, was allerdings auf Einladung von Francesca geschah. Noch bevor ein Unglück geschehen konnte (in diesem Fall: Ein Kuß oder noch größere Nähe bringende Taten hinsichtlich Francesca) verliess Gianni fluchtartig das Haus. Nun wusste er, dass seine geliebte Isabelle, die er Jahre zuvor in Florenz kennen- und lieben gelernt hatte und auf tragische Weise gleich wieder verlor, hier wohnte. Natürlich hatte Henry der Bär damals gleich gewußt, dass Gianni der Richtige für seine Isabelle war - Bärenintuition eben. Nachdem Gianni den Bären wiedererkannt hatte und geflohen war, dauerte es natürlich nicht lange, und die beiden waren ein Paar, heirateten und bekamen die kleine Giulia. Diese allerdings hatte eine so große Auswahl an Spielzeug, dass Mon Ami kaum mithalten konnte und schließlich in einer italienischen Pension "vergessen" wurde, wo er zwar eine neue Heimat fand aber seiner Aufgabe nur in begrenztem Umfang nachkommen konnte. So richtig schwer hatte es Henry dann in der Schweiz bei Laura und deren sich ewig streitenden Eltern, wo ihm wirklich Zweifel an der Menschheit kamen. In Budapest durfte er dann aber wieder voll und ganz Bär sein und die zarte, an Leukämie erkrankte Nina bis in den letzten und ewigen Schlaf hinein trösten, was ihm zwar einerseits gut tat aber auch (zum Glück nur fast) das Herz brach. Bei Ninas alter Großmutter in Wien verbrachte er dann noch einmal über 9 sehr ruhige Jahre bevor er nach deren Tod noch eine Weile im Schaufenster des Wiener Trödelladens stand, in dem ihn dann die Schriftstellerin (oder war es der Verleger selbst?) fand. Wäre diese nur nicht mit dem Flugzeug zurück nach Deutschland geflogen...!

 Welch beweges Leben! Beneidenswert. Bemitleidenswert.

Sind Teddybären eigentlich von "Geburt" an so weise oder erwerben sie, ähnlich uns Menschen, Erfahrungen, die sie prägen und ziehen daraus iher Schlüsse? Woher haben sie dieses unglaubliche Einfühlungsvermögen, was nur wenigen unserer Spezies innewohnt? Und wie schafft es Henry, so schnell in die Seele des alten Mannes auf der Überfahrt nach New York blicken, der sich selbst nicht versteht, dem das Leben Angst macht, der in sich selbst gefangen ist, Frieden sucht und sich wünscht, jemand würde ihn endlich verstehen. Zu ihm sagt der Bär: "Warum befreist Du Dich nicht?" Ja, Henry, wenn das so einfach wäre. Das müßtest Du als Bär doch wissen, dass man manchmal einfach nicht so handeln kann, wie man will. Du hast das selbst erkannt, Du fühlst wie der alte Mann, wie noch einige andere Menschen auf dieser Welt, Du verstehst sie. Sehr passend Deine Antwort auf des alten Mannes Lebensfragen: "Wir sitzen im gleichen Boot". Nicht mehr lange, leider...

Neben dem Nicht-Sprechen und Sich-nicht-bewegen-können unterscheidet den Bären ein weiteres Handicap von uns Menschen: "Ein Bär weint nach innen". Nein, leicht habt Ihr Teddys es wirklich nicht immer. Was uns dann doch wieder eint. So geht es Euch wie uns mit dem Glück: "Ich war glücklich. Und es war ziemlich anstrengend, glücklich zu sein, denn prompt bekam ich Angst, dieses Glück könnte enden. So ist das mit dem Glück, es ist eine flüchtige Angelegenheit." Laß dir gesagt sein, Henry, der Augenblick macht das Leben aus. Genieße ihn jetzt, denke nicht zu sehr an das Morgen. Lebe (oh: Entschuldigung) heute!


Bei allen Gemeinsamkeiten, die ich zwischen Henry und mir entdecken konnte (und es waren erschreckend - oder sollte ich besser sagen Gottseidank! - viele), eines unterscheidet uns dann doch: Henrys Abscheu gegen Katzen. Verdenken kann ich es ihm nicht, wurde er doch gleich nach seiner Entstehung bei Alice von deren Katze malträtiert und attackiert (ohne sich wehren zu können) und mußte noch oft als Spielball bzw. Kratzbaum diverser Katzentiere herhalten, während ich immerzu ein lautes Schnurren im Ohr hatte, als ich seine Geschichte las und Tiger warm auf meinen Oberschenkeln fühlte. Sei's drum. Henry, wir wären zwei wirklich gute Freunde gewesen, hätten Dich die Launen des Zufalls in meine Hände getragen. Aber zum Glück gibt es ja auch noch andere Menschen die so ticken wie Du und ich, lieber Henry N. Brown. Wofür ich sehr dankbar bin.