Donnerstag, 12. September 2013

Stadt der Diebe – David Benioff



Es geht wohl vielen so, denen in ihrer Jugend immer wieder der aufopferungsvolle Kampf der Sowjetsoldaten während des Großen Vaterländischen Krieges vorgehalten wurde: Wir mussten zu viele Geschichten von Edelmut und Entbehrung hören bzw. lesen, als dass wir sie noch als das wahrnehmen konnten was sie in der Tat waren, nämlich die Befreiung vom Faschismus, der die ganze Welt einzunehmen drohte. Durch die allgegenwärtige Heroisierung des Sowjetreiches und seiner Bewohner wurde bei den Schülern oft das Gegenteil des gewünschten Effektes erreicht, was ja ein allgemeines Problem der sozialistischen Erziehung war.



Und so tut es richtig gut, sich nun bei der Lektüre von „Stadt der Diebe“ mit einem Soldaten der Roten Armee zu solidarisieren und mit einem jugendlichen Feuerwehrmann zu sympathisieren, die eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Beiden droht die Exekution, welcher sie nur durch die Bewältigung einer schier unlösbaren Aufgabe entkommen können: Sie sollen innerhalb von vier Tagen im Auftrag eines hochrangigen Geheimdienstoffiziers 12 Eier für eine Hochzeitstorte organisieren. Und das im seit Monaten belagerten Stalingrad, in dem der Leim von Buchrücken gekratzt wird, um daraus Lebkuchen zu backen!

Die beiden, auf den ersten Blick sehr ungleichen Männer mögen sich anfangs überhaupt nicht, doch kommen sie sich im Verlauf der abenteuerlichen Unternehmung immer näher. Lew, der Sohn eines (denunzierten und verschwundenen) Schriftstellers, ist recht unsicher im Auftreten, unerfahren, und wird wegen seiner großen Nase immer gleich als Jude enttarnt. Kolja hingegen hat eine erfrischend große Klappe, die dem Leser und erst recht seinem Begleiter ob ihrer gefährlichen und stark provozierenden Äußerungen an so mancher Stelle das Blut in den Adern gefrieren lässt. Er benimmt sich so gar nicht wie der uns jahrelang vorgegaukelte Übermensch sondern hat seine Truppe einfach deshalb verlassen, weil er seit vier Monaten keine Frau gehabt hatte: „Meine Nüsse haben gebimmelt wie zwei Kirchenglocken.“ Doch auf Desertion, auch wenn sie nur zeitlich begrenzt und aus wahrlich nachvollziehbaren Gründen erfolgte, steht im Krieg nun mal die Todesstrafe.

Während ihrer erfolglosen Versuche, in Piter (so nennen die Ortsansässigen gegen den ausdrücklichen Willen der Machthaber die eingekesselte Stadt) die Eier aufzutreiben, fallen sie fast einem kannibalistischen Paar zum Opfer und treiben in einer sehr anrührenden Szene das letzte Huhn der Stadt auf. Welches schließlich als Hahn enttarnt und nun ohne Prozess, wie es nun mal im Krieg so üblich ist, zum Tode verurteilt wird. Die erste richtige Suppe seit Monaten gibt den beiden die Kraft, aus der Stadt zu marschieren, wo sie schließlich auf eine Partisaneneinheit stoßen statt auf die gesuchte Kolchose. Der etwas naive Lew verliebt sich in die Anführerin der Gruppe, wohl wissend, dass sie ihn niemals auch nur eines Blickes würdigen wird. Doch während einer unbequemen Nacht in deutscher Gefangenschaft, die das Potential in sich trägt, die letzte für die Protagonisten zu sein, genießt er voller Sinnlichkeit und Verlangen, wie sich Vika im Schlaf an ihn lehnt. Es ist anrührend und erinnert an eigene Erfahrungen ähnlicher Art, wie sich Lew keinen Zentimeter bewegt, um dieses Gefühl so lange wie möglich auszukosten.

Zu Beginn ihres Abenteuers ist Lew richtiggehend wütend auf seinen älteren Begleiter. Unter anderem, weil dieser sich, während Lew sich hungrig, frierend und ängstlich mit mehreren unbekannten Männern ein enges Zimmer teilt, nebenan mit einer ehemaligen Freundin vergnügt („Zu hören, wie andere sich lieben, ist das einsamste Geräusch auf der Welt.“). Doch während der unendlichen und ermüdenden Märsche durch den Winter bekommt Lew nicht nur Unterricht in Liebesdingen und einen Stapel pornographische Spielkarten von Kolja. Auch vom Mut und Optimismus des Ältern springt eine kleine Portion auf ihn über. So wächst eine Freundschaft heran, die zwar auf ungleichmäßigen Lebenserfahrungen aber keinesfalls auf unterschiedlicher Intelligenz beruht. Die russische Literatur ist ein Thema, das beide stark geprägt hat und sie ständig beschäftig. Auch wenn die Männer hier oft sehr unterschiedlicher Auffassung sind, so wird die Liebe zur ihr zum Band einer echten Freundschaft. Als Kolja eines Abends radikal gegen Natascha Rostow aus Krieg und Frieden wettert, muss sich Lew schmunzelnd eingestehen: „Einen Mann, der eine Romanfigur mit solcher Inbrunst verachtete, musste man einfach mögen…!“

Es ist wahrlich eine Freude, den in unprätentiöser Sprache geschriebenen Roman des amerikanischen Schriftstellers David Benioff, der hier die Geschichte seines Großvaters zu erzählen vorgibt, zu lesen. Doch es liegt in der Natur der Dinge, dass ein Stalingrad-Roman auch von brutalster Gewalt handelt, in der eine Erschießung eher wie eine Erlösung betrachtet und als Ende allen Leidens ersehnt wird. Doch schafft es diese Geschichte, dass man beim Lesen fast vergisst, dass der eigene Großvater möglicherweise einer der Belagerer und damit gehasster Feind des Erzählers war. Womit der Roman dann schließlich mit großer Verzögerung doch noch erreicht, was die sozialistische Schule nie vermochte: Unrecht als Unrecht zu identifizieren und die Schuld für das millionenfache Sterben allein den brutal wütenden Nazis zu zuschreiben. Womit „Stadt der Diebe“ als optimales Lehrbuch für alle Schüler, die heutigen, die ehemaligen und die zukünftigen, prädestiniert ist.

Dienstag, 3. September 2013

Das fremde Meer – Katharina Hartwell



Für die Beschreibung dieses Debütromans der jungen Autorin Katharina Hartwell müsste man erst ein Adjektiv erfinden, das die beiden Eigenschaften „düster“ und „hoffnungsvoll“ vereint, auch wenn diese doch komplett gegensätzlicher Natur sind.



Denn was den mutigen Leser, der nach der ersten – wahrlich apokalyptischen – Geschichte nicht aufgibt, im weiteren Verlauf des Buches erwartet, ist eben nicht nur zutiefst dunkel und so manches Mal frustrierend, sondern birgt auch immer einen Schimmer Zuversicht. Und das ist schon große literarische Kunst: Jeder hoffnungslosen Situation noch ein Ende abzutrotzen, das die Möglichkeit einer Rettung in sich birgt. Doch die wahre Größe von Hartwells Werk eröffnet sich erst mit der letzten, alles auflösenden Geschichte. Daher könnte man dem Leser auch raten, seine Lektüre mit dem Schlusskapitel zu beginnen, das allen vorangegangenen neun Geschichten auf einmal einen Sinn, einen Zusammenhang gibt. Diesen hat man zwar schon erahnt, gab es doch in einigen Kapiteln immer wieder Hinweise auf bereits erwähnte Personen, Städte, Gebäude und Begebenheiten, doch erst mit dem zu Tränen rührenden Schluss erschließt sich das große Ganze. Und wie die junge, am Leipziger Literaturinstitut studierende Autorin hier von Abschied und Trauer, von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung berichtet, das zeugt von einem Einfühlungsvermögen und einer Vorstellungskraft, die sonst nur lebenserfahrenen, weisen Menschen zugesprochen wird. Man spürt beim Lesen der Geschichte von Jan und Marie förmlich den Schmerz, den die Ich-Erzählerin empfindet, auch am eigenen Leib: „In den ersten beiden Wochen […] fühle ich mich wie aufgespießt; in meinem Körper steckt ein Pfahl, ich spüre ihn im Brustkorb, im Magen, er drängt die Organe ab.“

In jedem einzelnen der zehn Kapitel suchen und finden sich zwei Menschen, die einfach füreinander geschaffen sind, und man bewundert oft die Sicherheit, mit der diese spüren, dass dies eine unumstößliche Tatsache ist. Und deshalb riskieren sie auch immer sehr viel, manchmal alles: Denn für ein neues Leben genügt es nicht, sich nur die Haare zu schneiden und die Kleider zu wechseln. Will man wirklich etwas Grundsätzliches ändern, ist dies mit großen Schmerzen, ja mit Höllenqualen verbunden. So wie bei Miranda, der Prinzessin, die lieber ein Ritter sein wollte. In einer der schönsten Geschichten des ganzen Buches setzt sie für diesen Traum ihr Leben aufs Spiel.

Ein wenig befremdlich mag es für die Landratten unter den Lesern sein, dass das Meer mit seinen Geheimnissen und alten Legenden von Tauchern, die sich die Menschen zu sich in die Tiefe holen, so ganz anders beschrieben wird, als man es vom immer wieder herbeigesehnten Urlaub an der braven Ostsee kennt. Umso mehr muss man sich wundern, dass die Autorin nicht von einer einsamen Nordseeinsel, sondern aus Köln stammt, wo lediglich der Rhein träge und wellenlos dahingleitet. Denn mit welcher Sicherheit sie die dunklen Erzählungen der Alten in ihre Geschichten einwebt, das ließe vermuten, sie sei mit ihnen groß geworden und hätte sie beim Einschlafen selbst immer zu hören bekommen.

Obwohl Das fremde Meer letztendlich von der Liebe handelt, ist es kein leichter Stoff, der dem Leser hier zugemutet wird, aber es ist wahre Literatur, die es vermag, den Leser in ihren Bann zu ziehen und noch lange nach dem letzten Kapitel dessen Gedanken zu beschäftigen. Und das will bei der Masse von mittelmäßigen und schlechten Romanen, die ständig auf den Markt geworfen werden und der Fülle von Informationen und Eindrücken, die täglich verarbeitet werden wollen, schon etwas heißen! Da kann und sollte man gespannt sein, was diese junge Frau uns in Zukunft noch für Geschichten zu bieten hat, wenn sie ihr Studium erst einmal beendet haben wird. Den Namen Katharina Hartwell sollte man sich jedenfalls unbedingt einprägen!