Es geht wohl vielen so, denen
in ihrer Jugend immer wieder der aufopferungsvolle Kampf der Sowjetsoldaten
während des Großen Vaterländischen Krieges vorgehalten wurde: Wir mussten zu
viele Geschichten von Edelmut und Entbehrung hören bzw. lesen, als dass wir sie
noch als das wahrnehmen konnten was sie in der Tat waren, nämlich die Befreiung
vom Faschismus, der die ganze Welt einzunehmen drohte. Durch die
allgegenwärtige Heroisierung des Sowjetreiches und seiner Bewohner wurde bei den Schülern oft
das Gegenteil des gewünschten Effektes erreicht, was ja ein allgemeines Problem
der sozialistischen Erziehung war.
Und so tut es richtig gut,
sich nun bei der Lektüre von „Stadt der Diebe“ mit einem Soldaten der Roten
Armee zu solidarisieren und mit einem jugendlichen Feuerwehrmann zu
sympathisieren, die eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Beiden droht die
Exekution, welcher sie nur durch die Bewältigung einer schier unlösbaren
Aufgabe entkommen können: Sie sollen innerhalb von vier Tagen im Auftrag eines
hochrangigen Geheimdienstoffiziers 12 Eier für eine Hochzeitstorte
organisieren. Und das im seit Monaten belagerten Stalingrad, in dem der Leim
von Buchrücken gekratzt wird, um daraus Lebkuchen zu backen!
Die beiden, auf den ersten Blick
sehr ungleichen Männer mögen sich anfangs überhaupt nicht, doch kommen sie sich
im Verlauf der abenteuerlichen Unternehmung immer näher. Lew, der Sohn eines
(denunzierten und verschwundenen) Schriftstellers, ist recht unsicher im
Auftreten, unerfahren, und wird wegen seiner großen Nase immer gleich als Jude
enttarnt. Kolja hingegen hat eine erfrischend große Klappe, die dem Leser und
erst recht seinem Begleiter ob ihrer gefährlichen und stark provozierenden Äußerungen
an so mancher Stelle das Blut in den Adern gefrieren lässt. Er benimmt sich so
gar nicht wie der uns jahrelang vorgegaukelte Übermensch sondern hat seine
Truppe einfach deshalb verlassen, weil er seit vier Monaten keine Frau gehabt
hatte: „Meine Nüsse haben gebimmelt wie
zwei Kirchenglocken.“ Doch auf Desertion, auch wenn sie nur zeitlich
begrenzt und aus wahrlich nachvollziehbaren Gründen erfolgte, steht im Krieg
nun mal die Todesstrafe.
Während ihrer erfolglosen
Versuche, in Piter (so nennen die Ortsansässigen gegen den ausdrücklichen Willen
der Machthaber die eingekesselte Stadt) die Eier aufzutreiben, fallen sie fast
einem kannibalistischen Paar zum Opfer und treiben in einer sehr anrührenden
Szene das letzte Huhn der Stadt auf. Welches schließlich als Hahn enttarnt und
nun ohne Prozess, wie es nun mal im Krieg so üblich ist, zum Tode verurteilt
wird. Die erste richtige Suppe seit Monaten gibt den beiden die Kraft, aus der
Stadt zu marschieren, wo sie schließlich auf eine Partisaneneinheit stoßen
statt auf die gesuchte Kolchose. Der etwas naive Lew verliebt sich in die
Anführerin der Gruppe, wohl wissend, dass sie ihn niemals auch nur eines
Blickes würdigen wird. Doch während einer unbequemen Nacht in deutscher
Gefangenschaft, die das Potential in sich trägt, die letzte für die Protagonisten
zu sein, genießt er voller Sinnlichkeit und Verlangen, wie sich Vika im Schlaf
an ihn lehnt. Es ist anrührend und erinnert an eigene Erfahrungen ähnlicher Art,
wie sich Lew keinen Zentimeter bewegt, um dieses Gefühl so lange wie möglich
auszukosten.
Zu Beginn ihres Abenteuers
ist Lew richtiggehend wütend auf seinen älteren Begleiter. Unter anderem, weil
dieser sich, während Lew sich hungrig, frierend und ängstlich mit mehreren
unbekannten Männern ein enges Zimmer teilt, nebenan mit einer ehemaligen Freundin
vergnügt („Zu hören, wie andere sich
lieben, ist das einsamste Geräusch auf der Welt.“). Doch während der
unendlichen und ermüdenden Märsche durch den Winter bekommt Lew nicht nur
Unterricht in Liebesdingen und einen Stapel pornographische Spielkarten von
Kolja. Auch vom Mut und Optimismus des Ältern springt eine kleine Portion auf
ihn über. So wächst eine Freundschaft heran, die zwar auf ungleichmäßigen
Lebenserfahrungen aber keinesfalls auf unterschiedlicher Intelligenz beruht.
Die russische Literatur ist ein Thema, das beide stark geprägt hat und sie
ständig beschäftig. Auch wenn die Männer hier oft sehr unterschiedlicher
Auffassung sind, so wird die Liebe zur ihr zum Band einer echten Freundschaft. Als
Kolja eines Abends radikal
gegen Natascha Rostow aus Krieg und Frieden wettert, muss sich
Lew schmunzelnd eingestehen: „Einen Mann,
der eine Romanfigur mit solcher Inbrunst verachtete, musste man einfach
mögen…!“
Es ist wahrlich eine Freude,
den in unprätentiöser Sprache geschriebenen Roman des amerikanischen
Schriftstellers David Benioff, der hier die Geschichte seines Großvaters zu
erzählen vorgibt, zu lesen. Doch es liegt in der Natur der Dinge, dass ein
Stalingrad-Roman auch von brutalster Gewalt handelt, in der eine Erschießung
eher wie eine Erlösung betrachtet und als Ende allen Leidens ersehnt wird. Doch
schafft es diese Geschichte, dass man beim Lesen fast vergisst, dass der eigene
Großvater möglicherweise einer der Belagerer und damit gehasster Feind des
Erzählers war. Womit der Roman dann schließlich mit großer Verzögerung doch
noch erreicht, was die sozialistische Schule nie vermochte: Unrecht als Unrecht
zu identifizieren und die Schuld für das millionenfache Sterben allein den
brutal wütenden Nazis zu zuschreiben. Womit „Stadt der Diebe“ als optimales
Lehrbuch für alle Schüler, die heutigen, die ehemaligen und die zukünftigen,
prädestiniert ist.
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