Liebe Leser und
Blogverfolger: Hier ist endlich mal wieder eine uneingeschränkte Leseempfehlung
für Euch! Und dies, obwohl der vorliegende Roman nicht auf meiner stetig
anwachsenden Liste lesendwerter Bücher stand sondern mir durch Zufall in die
Hände fiel. Oder WEIL…!
Dabei ist weder die Sprache
des Buches besonders ausgefeilt, noch kommen exzessive Gewalt oder ausufernde
Erotikszenen vor, die Geschichte ist nicht besonders lustig oder spannend erzählt,
und es werden auch nicht mehrere Handlungsstränge oder Zeitebenen geschickt
miteinander verwebt. Selbst zum Lieblingsthema Liebe wird der Leser kaum Neues
erfahren. Nein, diesem Buch reicht eine ganz klassisch dem Zeitstrahl folgend
erzählte, mehr oder weniger stringente Geschichte aus, um den Leser in seinen
Bann zu ziehen. Ob es hierbei von Vorteil ist, wenn man, genau wie der
Protagonist Lev, aus dem ehemals sozialistischen Lager stammt, kann ich nicht
mit Sicherheit sagen. Dennoch half mir meine Vergangenheit an mancher Stelle,
mich in den mir gleichaltrigen sympathischen Reisenden hineinzuversetzen.
Kommen wir zum Inhalt der
Geschichte, die als modernes Märchen beworben wird. Doch halt: Ein Märchen geht
doch immer irgendwie richtig gut aus und alle leben bis ans Ende ihrer Tage
glücklich zusammen. Dieser Satz fehlt am Ende dieses Buches – ein weiterer
Pluspunkt auf meinem ganz persönlichen Punktekonto. Doch müssen im Märchen die
Helden nicht vor dem Happy End vielerlei Gefahren und Abenteuer bestehen,
kommen ihnen nicht oftmals Gedanken des Aufgebens? Genau! Und so geht es Lev
auch:
Aufgegeben hatte er, nachdem
seine wunderschöne Frau Marina, mit der er in einem kleinen Dorf in einer der
ehemaligen Sowjetrepubliken zusammengelebt hatte, an Leukämie gestorben war.
Keiner, dem nicht Ähnliches widerfahren ist, kann nachvollziehen, wie man sich
in solch einer Situation fühlt und wie man damit umgeht. Lev lag tage- und
wochenlang trauernd in der Hängematte im Haus seiner Mutter, bevor er dann den
Entschluss traf, sein Leben nun selbst in die Hand zu nehmen und sich in einen
Bus nach London setzte. Hier in diesem Bus nun, auf dieser endlos langen Fahrt,
setzt die Erzählung ein (weshalb wir auch von der Vergangenheitsform in den
Präsens wechseln wollen) und hier in diesem Bus hätte sich Levs Schicksal
bereits zum Guten wenden können, hätte er nicht noch zu sehr um Marina
getrauert. Später, so können wir nur ahnen, wird ihm schmerzlich bewusst, dass
er einen seiner größten Fehler begeht und die ihm von seiner Sitznachbarin
Lydia angebotene Freundschaft ablehnt. Diese Lydia hätte ich sehr gern kennen
gelernt. Sie ist nicht wirklich attraktiv (einer der Gründe, warum Lev immer
auf Abstand bleibt) aber immer wieder hilfsbereit, vergebend, freundlich und
nachsichtig mit Lev. Diese Lydia wird später, wenn sie ihr eigenes Glück
gefunden hat, zu Lev einen Satz sagen, der zeigt, was in diesem traurigen Mann
alles steckt, wie er auf andere wirken kann, ohne es selbst zu wissen: „Natürlich waren Sie es, Lev, der die
Erinnerung an das, was ich für einen Mann empfinden kann, wieder in mir geweckt
hat. Ich weiß, dass Sie nie etwas für mich empfunden haben aber das ist nicht
wichtig“.
Die ersten Tage und Wochen in
London, als Lev einen Preisschock nach dem anderen erlebt, in einem Kellerloch
unter der Straße schläft, von Polizisten aufgeschreckt und von einem netten
Araber mit kostenlos Kaffee und Döner bewirtet wird, sind so unglaublich plastisch
beschrieben, dass ich mich bei der Lektüre sofort an meinen ersten
London-Aufenthalt im Sommer 1990 erinnert fühlte. Genau wie Lev hatte ich mich
auf dem großen, hellen Schiff nach England total verloren gefühlt (und war
gleichzeitig extrem fasziniert) und kam dann völlig unvorbereitet und ohne Plan
in dieser turbulenten Stadt an. Wen wundert’s also, dass ich mich sofort mit
Lev verbrüderte und fortan an seiner Seite durch Ralph Mc Tells’s „Streets of
London“ wanderte?
Sehr präzise werden des Neuankömmlings
Eindrücke und Gefühle geschildert, als er nach ein paar erbärmlichen Tagen in
das Haus von Lydias Gastgebern eintritt: Er fühlt sich, als hätte er soeben die
Schwelle zum Paradies überschritten: Das Essen, dass ihm serviert wird, ist so
unglaublich neu und gut, dass er es am Liebsten ganz genauso bis ans Ende
seines Lebens essen würde, so wunderbar schmeckt es ihm. Wer nun je in einem
englischen Reihenhaus stand und wer jemals die englische Küche hautnah erleben musste,
der bekommt eine Ahnung davon, wie dunkel es in Lev’s Innerem aussah und wo er wirklich
her kam.
Mit Hilfe von Lydia findet der
arbeitswillige und lernbereite Lev schnell eine Stelle im Luxusrestaurant von
GK Ashe, wo er als „Schwester“ (so heißen hier die dauernd wechselnden
menschlichen Spülmaschinen) endlos lange und quälende Schichten an seiner 2,5m
langen edelstahlgänzenden Abtropffläche schrubbt. Und den Fußboden. Die
Gaskocher, die Arbeitsplatten, alles. Und das, nachdem gegen 1Uhr am Morgen alle anderen Mitarbeiter längst
nach Hause gegangen sind. Es ist eine brutale Arbeit und die 7₤ brutto, die er
in jeder grausamen Stunde verdient, reichen längst nicht so lange, wie ihm sein
bester Freund Rudi zu Hause hatte weismachen wollen. Dennoch zieht nun endlich
so etwas wie ein geregeltes Leben ein, denn Lev findet beim von Frau und
Tochter verlassenen Christy nicht nur ein Kinderbett mit Giraffenbettwäsche für
sein wahrlich müdes Haupt, sondern auch so etwas wie Freundschaft und ein wenig
Wärme. Und dies, obwohl die Wohnung kahl und kalt wirkt, so wie die eines
verlassenen Mannes eben, der sich komplett aufgegeben hat. Lev schafft es nun,
ein wenig Geld zu Mutter und Tochter nach Hause zu schicken und immer wieder
mit seinem besten Freund Rudi zu telefonieren, den ständig Sorgen um seinen
„Tschewi“ (einen 25 Jahre alter Chevrolet) quälen. Und zu guter Letzt
überwindet Lev mit der etwas molligen aber überaus quirligen, ja teilsweise
wahrlich wilden Sophie, die ebenfalls im GK Ashe arbeitet, zumindest zeitweise
seine Trauer über den Verlust der Frau und der Heimat. Es geht weiter bergauf
im Leben des Immigranten, als er vom Besitzer des Restaurants befördert wird
und fortan Gemüse für die Köche vorbereiten darf. Auch dies ein Knochenjob, der
keine Gnade kennt aber einer, bei dem in Lev etwas beginnt: Er begeistert sich
für die Idee des Kochens, schaut sich die Tricks der Köche ab und macht sich
vielerlei Notizen. Schließlich ist das Restaurant, in dem er hier arbeitet, vom
Niveau her soweit von den ihm bekannten Gaststätten seiner Heimat entfernt wie
Marilyn Monroes süßer Arsch von Helmut Kohls fettem Hintern.
Alles Bestens also im Leben
des Einwanderers, der scheinbar nun wirklich im Westen angekommen ist?
Keineswegs: Gerüchte über den Bau eines Staudamms, der sein Heimatdorf
ertränken wird, ständige Vorwürfe seiner Mutter, flehentliche Bitten seiner kleinen
Tochter, doch bald wieder nach Hause zu kommen und schließlich Rudis
Kapitulation dem Tschewi und sich selbst gegenüber, machen Lev schwer zu schaffen.
Sein schlechtes Verhalten zur immer wieder aktiv werdenden Lydia und zu der sich
mittlerweile in Künstlerkreisen bewegenden Sophie führt bald zum Verwürfnis mit
beiden Frauen. Nur das Glück seines Vermieters Christy, der sich in eine reife Inderin
verliebt (wer je den anmutigen, braunen Bauch einer indischen Schönheit unter deren
Sari hervorlugen sah und aus nächster Nähe bewundern durfte, wird wissen, wovon
ich hier schreibe) schwächt an dieser Stelle die immer wieder dem Buch eigene
Melancholie ein wenig ab. Niemand, am aller wenigsten wohl Christy selbst,
hätte je zu hoffen gewagt, dass er noch einmal vom Liebesglück kosten dürfe.
Als dann jedoch die Kündigung
seines Küchenjobs über Lev kommt, haut er ab aus der Großstadt und zieht zu
einem immer lachenden chinesischen Schwulenpäärchen in einen abgefuckten
Wohnwagen, der mitten im Feld eines Gemüsebauern steht. Dort verdingt sich Lev
nun als Spargelpflücker (auch um diesen Job beneide ich ihn keinesfalls) doch
wird er auch hier nie wirklich ankommen. Trotz der liebevollen Behandlung durch
die beiden süßen Chinesen. Aber: Während der endlosen Stunden bei monotoner
Arbeit hinter dem stinkenden Traktor keimt und wächst Lev’s Idee, mit der er
alle seine Probleme lösen möchte.
Zurück in London geht es dann
zumindest finanziell wieder bergauf, weil er nun als Kellner in einem
griechischen Restaurant arbeitet. Durch einem Zweitjob als Küchenchef im
Altenheim (ebenfalls 7 Tage die Woche!) verbessert sich seine penunsiäre Situation
drastisch und zum ersten Mal in dieser Geschichte überspringt nun die Autorin
eine große Zeitspanne: Plötzlich sehen wir Lev an einem eiskalten Wintermorgen
in sein Dorf laufen, der Tschewi und Rudi fahren erst an ihm vorbei, bevor sie
dann schließlich doch stoppen, das völlig unerwartete Widersehen wird mit Wodka
gefeiert und Lev’s Plan wird konkretisiert. Geld ist ja nun durch monatelanges
Malochen ausreichend vorhanden. Weitere Details dieser wunderschön traurigen
und dennoch Mut machenden Geschichte will ich an dieser Stelle gar nicht
ausführen, und auch meine Bemerkung zum fehlenden Happy End mag ich hier nicht
konkretisieren.
Was wir in diesem Roman
finden, was wir aus diesem Buch mitnehmen können ist die Hoffnung, dass das
Leben im Fluss ist und sich immer wieder verändert. Und dass es nun mal eine
Gesetzmäßigkeit ist, dass auf gute Zeiten schlechte folgen werden. Aber, und
das ist das Wichtigste: Diese Aussage gilt ebenso gegenteilig! Sehr gefühlvoll
wird der Leser in Lev’s Leben sowie in dessen Gefühls- und Gedankenwelt
eingewoben. Als der Dönerverkäufer den von seinen ersten Londoner Eindrücken
völlig überwältigten Lev beim Trauern um sein vergangenes Leben und um seine
Marina (die mit ihm schlief, wie eine Zigeunerin) ertappt und sagt: „Wenn Männer weinen, ist es nie wegen nichts…“
können einem schon mal die Augen feucht werden. Da stört es nicht wirklich,
dass die Autorin unseren Lev einige Male mit starkem Akzent sprechen lässt, obwohl
er über weite Strecken der Geschichte des Englischen (respektive Deutschen) sehr
wohl fehlerfrei mächtig ist. Auch die Tatsache, dass der Bau des Staudamms und
die folgende Flutung der umliegenden Dörfer innerhalb weniger Monate zustande
kommt, ist wohl eher der Tatsache geschuldet, dass die Autorin sich nicht mit
den Trockenzeiten von Beton auskennt als dem unermüdlichen Arbeitswillen der
postsowjetischen Arbeiter und daher ohne Weiteres verschmerzbar.
Ob der geneigte Leser die in
diesem Fall eher negativ angehauchte Aussage:
„Träume machten einen leichtsinnig, schickten einen auf Pfade, die man normalerweise
nicht einschlagen würde“ nicht vielleicht
auch ins Positive transformieren möchte, sei diesem selbst überlassen. Ich habe
meine Entscheidung in der Bewertung dieses Satzes jedenfalls spontan getroffen
und halte nun zu ihr! Ebenso, wenn auch mit weniger Inbrunst, verfechte ich
auch die an einer anderen Stelle getroffene Lebensweisheit, dass es: „... wichtig für jeden Menschen ist,
wenigstens eine große Idee im Leben zu haben“.
Kurz vor dem Ende der
Geschichte, als Lev, immer wieder auf Lydias Besuch hoffend, seinem Freund Rudi
alles über seine Beziehung (oder sollte man besser sagen: Nichtbeziehung?) zu
dieser Frau erzählt, entgegnet Rudi den weisen Satz: „Sie kommt nicht, weil sie sich vor dem fürchtet, was sie noch für dich
empfindet. Also musst Du es einfach akzeptieren und vergessen ...“ So wahr
dieser Ratschlag auch sein mag: Ich kenne meinen Lev mittlerweile so gut, dass
ich weiß, dass er sie eben NICHT vergessen und stattdessen bis an sein
Lebensende darauf warten wird, dass Lydia sich wieder zeigt. Genauso wie er
immerfort von den herrlichen Nächten mit Sophie träumen wird. Er ist eben nicht
nur ein zupackender Macher sondern auch ein unvernünftiger Spinner. Wofür ich
ihn liebe.
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