Des Kritikers Meinung zu dem
vorliegenden Roman ist unausgewogen. Und dies, obwohl doch eigentlich alles
enthalten ist, was ein gutes Buch braucht, um vom Publikum geliebt und vom
Rezensenten zumindest geachtet zu werden: Ein wenig Liebe, etwas Sex, nicht zu
viel aber doch ein gutes Stück Gewalt, immer wieder neue Hoffnung gefolgt von
wiederkehrenden Enttäuschungen, vielfaches Leid, ein echtes Wunder und ein
offenes Ende.
Im Folgenden wird man daher
weder eine uneingeschränkte Leseempfehlung erwarten können noch muss man damit
rechnen, recht viel Negatives über diese zwischen den Weltkriegen handelnde
Geschichte zu lesen. Es bleibt daher dem neugierigen Leser nicht erspart, „Die
Unberührten“ selbst zur Hand zu nehmen und sich ein Urteil zu bilden.
Ein kleines Mädchen in einem
schweizerischen Dorf der 20er Jahre besticht durch ihre anrührende Stimme und
durch ihre vom allgemeinen Geist der Zeit (und der beschränkten
Kleinkariertheit des Dorflebens) abweichende Gedanken- und Gefühlswelt. Dem
bärbeißigen Monsignore fiel dies schon lange auf: „Diese Welt schmeckt ihr nicht, also erfindet sie eine neue. Nicht die
Nüchternen machen die Welt bewohnbar - die Träumer“. Nach einem nächtlichen Traum weiß sie mit
beneidenswerter Sicherheit, dass sie bald weit weggehen wird und bereitet sich
auf diesen Schritt mit großer Konzentration und Gelassenheit vor.
Von einem Menschenhändler
wird sie dann tatsächlich, kurz nach dem Verschwinden des geliebten Vaters und
dem Tod der schönen Mutter, auf einem riesigen Schiff mitsamt ihrer neuen aber
falschen Familie nach New York eingeschifft. Dass sie dieser Familie durch eine
mutige Aktion am Einwandererschalter auf Ellis Island einerseits die
Sklavenarbeit in einer der zahlreichen Fabriken erspart, diese aber
andererseits in das verarmte Europa zurück verfrachtet, bemerkt sie gar nicht
ob der Freude über ihre gelungene Racheaktion am ekelhaften Agenten Narrody.
Nur der blitzschnellen Reaktion eines größeren Jungen, der ihr schon am Bahnhof
und im Schiff aufgefallen war, verdankt sie schließlich doch noch die Einreise
ins gelobte Land. Ohne darüber zu reden (Balthasar ist anscheinend stumm, was
jedoch eher am zuvor erfahrenen Leid als an eventuellen physischen Problemen
liegt), bleiben die beiden zusammen, wohnen einige Zeit bei einem Fleischer, wo
Balthasar die später noch benötigte Kunst des Körperzerteilen erlernt, und
richten sich schließlich ein Loch unter einer Brücke wohnlich ein. Antonia
hatte vor, ihre neu gewonnene Freiheit und auch ihre Weiblichkeit nun endlich
auszuleben und aus dem lauten, dreckigen Loch unter der Brooklyn Bridge ein
gemütliches Zuhause zu zaubern. Hier wollte sie dann endlich mit ihrem „großen
Bruder“ Balthasar allein sein. Dieser jedoch konnte mit diesem ganzen Krims Krams,
den sie irgendwoher anschleppte, überhaupt nichts anfangen und so gab Tony nach
und nach auf, nachdem sie noch eine Weile lang versucht hatte, wenigstens in
ihrer Hälfte des Raumes Ordnung und Sauberkeit zu halten. Wenn die Beiden nicht
einfach nur reglos dalagen und verrotteten, unternahmen sie ihre Beutezüge
durch die Stadt, doch wurden sie immer phlegmatischer und teilnahmsloser. Ein
immer gut gelaunter „General“ hatte es den Beiden jedoch irgendwie angetan und
auch er schien sie in sein Herz geschlossen zu haben und kümmerte sich in
väterlicher Art – oder sollte man sagen: wie ein lieber Onkel ? – insbesondere
um die immer erwachsener und schöner werdende Antonia. Diese nahm sowohl ihre
Entjungferung durch den Alten wie auch die kurz darauf folgende
Verprostituierung klaglos in Kauf, und auch Balthasar, der zwar ahnte, dass ihn
mehr
als die gezeigte kameradschaftliche Freundschaft zu ihr zieht, verfolgte dieses
Schauspiel lediglich als passiver, unbeteiligter Beobachter. Als sie einmal
wegen einer schlimmen Krankheit kurz vor ihrem letzten Atemzug stand,
beobachtete er sie mehr interessiert am Vorgang des Sterbens (wollte er doch
die Seele entweichen sehen) als mitfühlend oder gar helfend.
Doch Balthasars schweigsame
Art und dessen fehlende Aufmerksamkeit für Antonia und die Dinge, die uns
Menschen leben lässt, hinderte diese nicht daran, eine schmerzliche Liebe für
diesen seltsamen aber für sie so wichtigen Menschen zu entwickeln. Ihre
Sehnsucht nach einer Umarmung, nachdem ein Sonnenstrahl auf dessen Gesicht
gefallen war, forderte sie regelrecht dazu auf, seine Hand ergreifen, diese
streicheln und sich an ihm festklammern. Der junge Mann ließ all dies zwar
geschehen doch fühlte Tony eine traurige Kälte von ihm ausgehen. Sein Herz
schlug nicht, er hatte keinerlei Empfindungen und sann lediglich auf Rache für
all das, was ihm in der Vergangenheit angetan worden war. Wegen dieser
unerwiderten Liebe stand Antonia kurz davor, ihr Leben zu beenden, weil dieser
bohrende Schmerz nicht mehr auszuhalten war: „Ein sinnloses Leben war leicht zu ertragen. Man brauchte sich nur
hinzulegen, die Glieder auszustrecken und zu warten, bis es vorbei ist. Aber
ein Leben auszuhalten, in dem es plötzlich eine Vision gab, die sich nicht
erfüllen sollte, war unerträglich.“
Keiner der beiden wusste,
dass sich tief in Balthasar doch noch ein Funke von Liebe festgesetzt hatte,
der sich erst dann entwickeln und Bahn brechen konnte, nachdem er endlich Rache
geübt hatte. Stellvertretend für das vergangene und gegenwärtige Leid meuchelte
er seinen Arbeitgeber, der ihn nächtelang beim Fische - Sortieren gequält hatte.
Wie er es nach der Ankunft in Amerika beim Fleischer gelernt hatte, zerlegte er
den fiesen Kerl in alle erdenklichen Einzelteile, was natürlich einen Sturm der
Entrüstung ob der schaurig Tat in der Stadt verbreitete, die in allen Gazetten
ausgiebig und genüsslich ausgeschlachtet wurde. Nun war es Balthasar
möglich, sich Antonia auf anrührend zärtliche Weise ein wenig zu nähern, doch
tat er dies anfangs nur während sie schlief. So stark, dass er seine Gefühle
ihr gegenüber hätte zugeben können, hatte er sich noch nicht verändert. Doch
dauerte es nicht lange, bis Antonia und Balthasar die körperliche Liebe mit
einer ungezügelten Wucht und Lust praktizierten, die an ein mächtiges
Strohfeuer erinnert, dass zwar unheimlich groß und heiß brennt aber nach kurzer
Zeit nichts als ein Häuflein Asche zurücklässt.
Und so kam es, dass ein
junger, reicher Musiker Antonias traurigen Gesang hörte und die durch einen
Kunden schwerverletzte und extrem verwahrloste Frau mit in die Villa der Eltern
brachte. Da Aron keinerlei Zweifel daran lies, dass er sich auch ohne die
Unterstützung der Familie um das Mädchen kümmern werde, nahm sich die Mutter
ihrer an und adoptierte sie kurzerhand als Nichte. Natürlich genoss Antonia
sehr, dass sie das erste Mal in ihrem Leben richtig viel und gut zu essen
hatte, Leibwäsche aus Satin tragen und andere Annehmlichkeiten genießen durfte.
Doch spürte sie Arons Liebe eher als Last, denn sie konnte sie nicht so
erwidern, wie sie es hätte tun sollen. Ihre ohnehin bereits unglaublich anrührende
und verblüffend professionelle Stimme wurde fortan von einem Gesangslehrer
geschult und Antonia bekam die Chance, im Chor der Metropolitan Opera endlich
das zu tun, was sie richtig gut konnte: Singen!
Für mich ist die Szene, in
der sie schließlich vom Dirigenten und
vom Publikum entdeckt und mit „über
einstündigen Ovationen“ gefeiert wurde, dann doch ein wenig zu dick
aufgetragen aber immerhin freut man sich mit dem armen Mädchen, dass ihr Traum
nun endlich Erfüllung gegangen und sie bei der geliebten „Tante Amerika“
angekommen ist.
Dies ist also die anrührend
erzählte Geschichte der Antonia Sahler aus dem armen Reinthal, doch hat sich
mir nicht recht erschlossen, was sie uns denn nun eigentlich sagen will. Sicher
möchte uns der Autor Mut machen, unser Leben zu leben, auch wenn es uns
vielleicht gerade so geht wie Arons Eltern: „Sie
liebten einander sehr, besonders wenn der andere abwesend war, und ihre
Zuneigung wuchs im Quadrat der Entfernung, die zwischen ihnen lag“.
Solcherlei Sätze sind wirklich
schön geschrieben und man trifft sie immer wieder an. Auch hält für das Buch
für alle unerwidert Liebenden ein paar Hoffnung machende Aussagen parat wie die
des alterwürdigen aber verbitterten Monsignore aus Antonias Dorf: „Die wirkliche Liebe kennt keine Hoffnung,
keine Berechnung und hat keinen Plan, Darum ist sie so groß. Größer als unser
Menschengott. Amen“.
Doch fehlt mir ein wenig der
rote Faden, auch bietet das vorliegende Werk keine wirklich „süchtig“ machende
Unterhaltung wie manch anderes Buch, das man in jeder freien Minute zur Hand
nimmt. Auch eine Grundaussage suchte ich vergebens. Doch ist diese ja
vielleicht für Manchen im verzweifelten, bei näherer Betrachtung aber auch
irgendwie realistisch das Leben einschätzenden Wort des eigentümlichen Pfarrers
zu finden:
„Erstens: Das Leben hat keinen Sinn. Zweitens: Du
Mensch, versuche nicht, ihm einen Sinn zu geben. Drittens: Verzweifle!
Viertens: Verzweifle wieder! Fünftens: Es gibt keine Hoffnung. Sechstens: Es
ist alles umsonst. Siebtens: Jetzt, Mensch, leb weiter!“
P.S.: Ersetzte man im oben stehenden Zitat das „b“ im Wörtchen
„Leben“ durch ein kleines „s“, so könnte man sich schnell mit dem doch
eigentlich wirklich schön geschriebenen Buch versöhnen und nun frohen Mutes und
voller Spannung das nächste vom Stapel nehmen, so wie ich es jetzt sofort
praktizieren werde.
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