Donnerstag, 4. Oktober 2012

Die Unberührten – Robert Schneider


Des Kritikers Meinung zu dem vorliegenden Roman ist unausgewogen. Und dies, obwohl doch eigentlich alles enthalten ist, was ein gutes Buch braucht, um vom Publikum geliebt und vom Rezensenten zumindest geachtet zu werden: Ein wenig Liebe, etwas Sex, nicht zu viel aber doch ein gutes Stück Gewalt, immer wieder neue Hoffnung gefolgt von wiederkehrenden Enttäuschungen, vielfaches Leid, ein echtes Wunder und ein offenes Ende.

Im Folgenden wird man daher weder eine uneingeschränkte Leseempfehlung erwarten können noch muss man damit rechnen, recht viel Negatives über diese zwischen den Weltkriegen handelnde Geschichte zu lesen. Es bleibt daher dem neugierigen Leser nicht erspart, „Die Unberührten“ selbst zur Hand zu nehmen und sich ein Urteil zu bilden.

Ein kleines Mädchen in einem schweizerischen Dorf der 20er Jahre besticht durch ihre anrührende Stimme und durch ihre vom allgemeinen Geist der Zeit (und der beschränkten Kleinkariertheit des Dorflebens) abweichende Gedanken- und Gefühlswelt. Dem bärbeißigen Monsignore fiel dies schon lange auf: „Diese Welt schmeckt ihr nicht, also erfindet sie eine neue. Nicht die Nüchternen machen die Welt bewohnbar - die Träumer“.  Nach einem nächtlichen Traum weiß sie mit beneidenswerter Sicherheit, dass sie bald weit weggehen wird und bereitet sich auf diesen Schritt mit großer Konzentration und Gelassenheit vor.

Von einem Menschenhändler wird sie dann tatsächlich, kurz nach dem Verschwinden des geliebten Vaters und dem Tod der schönen Mutter, auf einem riesigen Schiff mitsamt ihrer neuen aber falschen Familie nach New York eingeschifft. Dass sie dieser Familie durch eine mutige Aktion am Einwandererschalter auf Ellis Island einerseits die Sklavenarbeit in einer der zahlreichen Fabriken erspart, diese aber andererseits in das verarmte Europa zurück verfrachtet, bemerkt sie gar nicht ob der Freude über ihre gelungene Racheaktion am ekelhaften Agenten Narrody. Nur der blitzschnellen Reaktion eines größeren Jungen, der ihr schon am Bahnhof und im Schiff aufgefallen war, verdankt sie schließlich doch noch die Einreise ins gelobte Land. Ohne darüber zu reden (Balthasar ist anscheinend stumm, was jedoch eher am zuvor erfahrenen Leid als an eventuellen physischen Problemen liegt), bleiben die beiden zusammen, wohnen einige Zeit bei einem Fleischer, wo Balthasar die später noch benötigte Kunst des Körperzerteilen erlernt, und richten sich schließlich ein Loch unter einer Brücke wohnlich ein. Antonia hatte vor, ihre neu gewonnene Freiheit und auch ihre Weiblichkeit nun endlich auszuleben und aus dem lauten, dreckigen Loch unter der Brooklyn Bridge ein gemütliches Zuhause zu zaubern. Hier wollte sie dann endlich mit ihrem „großen Bruder“ Balthasar allein sein. Dieser jedoch konnte mit diesem ganzen Krims Krams, den sie irgendwoher anschleppte, überhaupt nichts anfangen und so gab Tony nach und nach auf, nachdem sie noch eine Weile lang versucht hatte, wenigstens in ihrer Hälfte des Raumes Ordnung und Sauberkeit zu halten. Wenn die Beiden nicht einfach nur reglos dalagen und verrotteten, unternahmen sie ihre Beutezüge durch die Stadt, doch wurden sie immer phlegmatischer und teilnahmsloser. Ein immer gut gelaunter „General“ hatte es den Beiden jedoch irgendwie angetan und auch er schien sie in sein Herz geschlossen zu haben und kümmerte sich in väterlicher Art – oder sollte man sagen: wie ein lieber Onkel ? – insbesondere um die immer erwachsener und schöner werdende Antonia. Diese nahm sowohl ihre Entjungferung durch den Alten wie auch die kurz darauf folgende Verprostituierung klaglos in Kauf, und auch Balthasar, der zwar ahnte, dass ihn mehr als die gezeigte kameradschaftliche Freundschaft zu ihr zieht, verfolgte dieses Schauspiel lediglich als passiver, unbeteiligter Beobachter. Als sie einmal wegen einer schlimmen Krankheit kurz vor ihrem letzten Atemzug stand, beobachtete er sie mehr interessiert am Vorgang des Sterbens (wollte er doch die Seele entweichen sehen) als mitfühlend oder gar helfend.

Doch Balthasars schweigsame Art und dessen fehlende Aufmerksamkeit für Antonia und die Dinge, die uns Menschen leben lässt, hinderte diese nicht daran, eine schmerzliche Liebe für diesen seltsamen aber für sie so wichtigen Menschen zu entwickeln. Ihre Sehnsucht nach einer Umarmung, nachdem ein Sonnenstrahl auf dessen Gesicht gefallen war, forderte sie regelrecht dazu auf, seine Hand ergreifen, diese streicheln und sich an ihm festklammern. Der junge Mann ließ all dies zwar geschehen doch fühlte Tony eine traurige Kälte von ihm ausgehen. Sein Herz schlug nicht, er hatte keinerlei Empfindungen und sann lediglich auf Rache für all das, was ihm in der Vergangenheit angetan worden war. Wegen dieser unerwiderten Liebe stand Antonia kurz davor, ihr Leben zu beenden, weil dieser bohrende Schmerz nicht mehr auszuhalten war: „Ein sinnloses Leben war leicht zu ertragen. Man brauchte sich nur hinzulegen, die Glieder auszustrecken und zu warten, bis es vorbei ist. Aber ein Leben auszuhalten, in dem es plötzlich eine Vision gab, die sich nicht erfüllen sollte, war unerträglich.“

Keiner der beiden wusste, dass sich tief in Balthasar doch noch ein Funke von Liebe festgesetzt hatte, der sich erst dann entwickeln und Bahn brechen konnte, nachdem er endlich Rache geübt hatte. Stellvertretend für das vergangene und gegenwärtige Leid meuchelte er seinen Arbeitgeber, der ihn nächtelang beim Fische - Sortieren gequält hatte. Wie er es nach der Ankunft in Amerika beim Fleischer gelernt hatte, zerlegte er den fiesen Kerl in alle erdenklichen Einzelteile, was natürlich einen Sturm der Entrüstung ob der schaurig Tat in der Stadt verbreitete, die in allen Gazetten ausgiebig und genüsslich ausgeschlachtet wurde. Nun war es Balthasar möglich, sich Antonia auf anrührend zärtliche Weise ein wenig zu nähern, doch tat er dies anfangs nur während sie schlief. So stark, dass er seine Gefühle ihr gegenüber hätte zugeben können, hatte er sich noch nicht verändert. Doch dauerte es nicht lange, bis Antonia und Balthasar die körperliche Liebe mit einer ungezügelten Wucht und Lust praktizierten, die an ein mächtiges Strohfeuer erinnert, dass zwar unheimlich groß und heiß brennt aber nach kurzer Zeit nichts als ein Häuflein Asche zurücklässt.

Und so kam es, dass ein junger, reicher Musiker Antonias traurigen Gesang hörte und die durch einen Kunden schwerverletzte und extrem verwahrloste Frau mit in die Villa der Eltern brachte. Da Aron keinerlei Zweifel daran lies, dass er sich auch ohne die Unterstützung der Familie um das Mädchen kümmern werde, nahm sich die Mutter ihrer an und adoptierte sie kurzerhand als Nichte. Natürlich genoss Antonia sehr, dass sie das erste Mal in ihrem Leben richtig viel und gut zu essen hatte, Leibwäsche aus Satin tragen und andere Annehmlichkeiten genießen durfte. Doch spürte sie Arons Liebe eher als Last, denn sie konnte sie nicht so erwidern, wie sie es hätte tun sollen. Ihre ohnehin bereits unglaublich anrührende und verblüffend professionelle Stimme wurde fortan von einem Gesangslehrer geschult und Antonia bekam die Chance, im Chor der Metropolitan Opera endlich das zu tun, was sie richtig gut konnte: Singen!

Für mich ist die Szene, in der sie  schließlich vom Dirigenten und vom Publikum entdeckt und mit „über einstündigen Ovationen“ gefeiert wurde, dann doch ein wenig zu dick aufgetragen aber immerhin freut man sich mit dem armen Mädchen, dass ihr Traum nun endlich Erfüllung gegangen und sie bei der geliebten „Tante Amerika“ angekommen ist.

Dies ist also die anrührend erzählte Geschichte der Antonia Sahler aus dem armen Reinthal, doch hat sich mir nicht recht erschlossen, was sie uns denn nun eigentlich sagen will. Sicher möchte uns der Autor Mut machen, unser Leben zu leben, auch wenn es uns vielleicht gerade so geht wie Arons Eltern: „Sie liebten einander sehr, besonders wenn der andere abwesend war, und ihre Zuneigung wuchs im Quadrat der Entfernung, die zwischen ihnen lag“.

Solcherlei Sätze sind wirklich schön geschrieben und man trifft sie immer wieder an. Auch hält für das Buch für alle unerwidert Liebenden ein paar Hoffnung machende Aussagen parat wie die des alterwürdigen aber verbitterten Monsignore aus Antonias Dorf: „Die wirkliche Liebe kennt keine Hoffnung, keine Berechnung und hat keinen Plan, Darum ist sie so groß. Größer als unser Menschengott. Amen“.

Doch fehlt mir ein wenig der rote Faden, auch bietet das vorliegende Werk keine wirklich „süchtig“ machende Unterhaltung wie manch anderes Buch, das man in jeder freien Minute zur Hand nimmt. Auch eine Grundaussage suchte ich vergebens. Doch ist diese ja vielleicht für Manchen im verzweifelten, bei näherer Betrachtung aber auch irgendwie realistisch das Leben einschätzenden Wort des eigentümlichen Pfarrers zu finden:
„Erstens: Das Leben hat keinen Sinn. Zweitens: Du Mensch, versuche nicht, ihm einen Sinn zu geben. Drittens: Verzweifle! Viertens: Verzweifle wieder! Fünftens: Es gibt keine Hoffnung. Sechstens: Es ist alles umsonst. Siebtens: Jetzt, Mensch, leb weiter!“

P.S.: Ersetzte man im oben stehenden Zitat das „b“ im Wörtchen „Leben“ durch ein kleines „s“, so könnte man sich schnell mit dem doch eigentlich wirklich schön geschriebenen Buch versöhnen und nun frohen Mutes und voller Spannung das nächste vom Stapel nehmen, so wie ich es jetzt sofort praktizieren werde.

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