Ein schönes Buch,
zweifelsohne. Voller sprachlicher Bilder: Genauestens wiedergegebene Eindrücke
und Beobachtungen einer der ersten Fotografinnen überhaupt. Dennoch musste ich
mich schon ein wenig mühen, um bis zum Ende durchzuhalten, ich gebe es an
dieser Stelle zu. Was aber den geneigten Leser nicht davon abhalten sollte, es dennoch
zur Hand zu nehmen und sich der Bilderwelt der Lucy Strange hinzugeben, interessiere
er sich nun für Fotografie, vergangene Zeiten, fremde Länder oder sei er einfach
ein Genießer von wohlbeschriebenen Stimmungen. Auch wer außergewöhnliche und faszinierend
formulierte Sätze mag, wird hier und da seine Freude finden, wenn er sich denn mitreißen
lässt und es ihm gelingt abzutauchen in diese Geschichte, die im letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts auf mehreren Kontinenten spielt.
Lucy und ihr geliebter
Bruder Thomas wachsen im heißen Australien auf, müssen allerdings sehr
frühzeitig den Tod ihrer lieben Eltern verkraften. Kurzzeitig noch einmal
können sie unbeschwert ihre Kindheit genießen, als sie bei einem nahen
Verwandten, dessen exotischer chinesischer Frau und deren ebenfalls angenehm
unangepassten Kindern leben. Doch auch dieses Paradies wird Thomas und Lucy
genommen, als sie von ihrem skurrilen Onkel Neville abgeholt und nach England
gebracht werden. Das Leben im feuchten, dunklen, beengten London fordert die
beiden sehr und es dauert lange, bis sich die „strangers“ in dieser fremden Welt zurechtfinden und schließlich
halbwegs wohl fühlen. Als Onkel Neville seine Arbeit verliert, sucht er sein
Glück immer mehr in spirituellen Handlungen und versucht sogar, auf diese Weise
mit seiner Schwester, der Mutter der beiden Kinder, zu kommunizieren. Diese
müssen nun für den Unterhalt der seltsamen Kleinfamilie sorgen, was beide in
die moderne, zukünftige Welt einführt. Lucy in die Welt der statischen Bilder -
Fotografie als Kunst - , wenn auch vorerst nur in einer Manufaktur, wo sie
stundenlang Eier auftrennt, um die Grundlage für die Herstellung von Fotopapier zu schaffen. Thomas in die Welt der
bewegten Bilder, wo er zur zweiten Hand eines Laterna-Magica-Vorführers
avanciert, dessen Teilhaber er schließlich wird und täglich eine große Anzahl
von begeisterten Menschen in eine neue, fremde Welt entführt.
Gerade als sie sich beide
in diesem Leben eingefunden haben ändert sich wieder alles, weil Neville Lucy
nach Indien schickt, wo sie einen alten Freund (später werden wir erfahren,
dass dieser als junger Mann in Neville verliebt war) ehelichen soll. Warum sie
sich in dieses Schicksal fügt, ist nicht nachvollziehbar. Eher schon, dass sie
sich auf der ewig langen Schiffspassage („Man
befindet sich in einem Zustand göttlicher Gnade, wenn man von zurückgehaltenen
Wassermassen umgeben schlafen darf“) mit einem verheiraten Mann einlässt
und sehr schnell und sehr ausführlich die körperliche Liebe zu lieben lernt.
Isaac Newton, der sie am Kai erwartet, wird sie zwar doch nicht heiraten, zu
verschieden sind sich die beiden. Doch hat dieser so viel Anstand, dass er Lucy
anbietet, ihr uneheliches Kind in seinem Hause zu gebären um dann mit dem Namen
Newton nach England zurückzukehren. Lucy geht es in Indien wie vielen Europäern
(auch ich habe ganz genau so gefühlt und gehandelt, als ich kürzlich dort war):
Sie kann sich nicht daran gewöhnen, ständig bedient zu werden, ohne wenigstens
voller aufrichtiger Freundlichkeit auf die Hausangestellten zuzugehen, ungeachtet
deren Kaste oder gesellschaftlicher Stellung. Großzügig gefördert von Isaac,
mit dem sie ein immer innigeres Verhältnis eingeht, wenn auch weder dieses vielsagende
Wort noch der Begriff „Ehe“ die Form des Zusammenlebens der beiden treffend
beschreibt, erlernt sie die Kunst des Fotografierens. Fortan nun kann sie zu
ihren „Besonderen gesehenen Dingen“,
einem kleinen Büchlein mit einer Sammlung spezieller, nur von ihr
wahrgenommener und als besonders eingestufter Eindrücke, echte Abbildungen
hinzufügen. Als sie schließlich nach London zurückkehrt, fällt ihr der Abschied
von dem viel älteren Isaac seltsamerweise genauso schwer wie ihm die Trennung
von dieser besonderen Frau.
Zwar stirbt Onkel Neville
kurz vor Lucys Ankunft, was sie sehr traurig macht, doch heiratet Thomas bald
darauf und die kleine Familie lebt in einer neuen Konstellation für eine Weile
zufrieden und friedlich zusammen. Schließlich trifft Lucy, kurz bevor sie von
der Schwindsucht dahingerafft wird, zufällig auf die australische Hebamme ihrer
Mutter, welche sich sofort in die kleine Familie integriert und als Oma, Tante
und Mutter für Lucys Tochter Ellen fungiert und auf den etwas schüchternen aber
sehr liebenswerten Jacob, mit dem sie nun endlich wieder die Genüsse der
(körperlichen) Liebe für eine kurze aber schöne Zeitspanne teilen kann.
Nicht die eben
dargestellte Handlung an sich ist es, die das Buch lesenswert machen. Es sind
kunstvolle, schwierige aber wahre und oft wunderschöne Sätze (welche mir zwar
in dieser Form niemals von der Feder gehen werden, die ich aber in bestimmten
Augenblicken staunend genießen und kopfnickend bestätigen kann, weil ich meine
eigenen Gedanken in kunstvolle Formulierungen gekleidet hier wiederfinde), wie
die folgenden, welche ich unkommentiert an den Schluss meiner Betrachtungen zu
„Sechzig Lichter“ stelle, in der Hoffnung, dass sie ihre Wirkung bei Leser und
Leserin nicht verfehlen werden.
„So geschieht es, durch kleine Veränderungen, die
voller Möglichkeiten stecken, und durch das Eingreifen anderer oder
möglicherweise auch durch unehrenhafte Absichten herbeigeführt wurden, dass
sich künftige Schicksale offenbaren und Leben eine andere Richtung
einschlagen“.
„Die Welt vor ihr war wie geblasenes Glas: eine
flüssige Form, die sich von Atem erfüllt zu einer glänzenden neuen Form
aufblähte.“
„Er offenbarte eine solche Bandbreite an Ichs, wie
sie Isaac nie zuvor bei jemanden gesehen hatte.“
„Sie bekam ihre Einsamkeit schmerzlich zu spüren,
das eigene Ich verdunkelte sich in der Abwesenheit von Verständnis.“
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