Montag, 26. August 2013

Erledigt in Paris und London - Geroge Orwell

Ein durch Zufall gefundenes Buch auf Reisen - www.bookcrossing.com machts möglich - wollte natürlich auch während einer Reise gelesen werden. Dass es sich um eine englische Originalausgabe handelte und der Rezensent zufällig in London war, passte da natürlich wunderbar und verlieh der Lektüre eine gewisse Portion Authentizität! Denn einerseits war es an sich schon aufregend, am Originalschauplatz in der Originalsprache zu lesen und Kings Cross, Elephant and Castle usw. mit eigenen Augen zu sehen, während diese bekannten Ort noch im Kopf umher schwirrten. Andererseits kam der Aufenthalt in England natürlich dem Verständnis zu Gute.



Noch authentischer wird das Geschriebene durch die Tatsache, dass Orwell quasi als früher Wallraff unterwegs war (wenn er auch im Gegensatz zu diesem auf vollkommen unfreiwillige Art unter sklavenähnlichen Bedingungen in Paris schuften und als Obdachloser in London unter den Ausgestossenen leben musste). Es ist nahe gehend, wie plastisch die Lebensumstände der Gestrauchelten geschildert werden, ob sie nun tagelang nichts Essbares auftreiben konnten, 17 Stunden für einen Hungerlohn schuften oder wochenlang die Zeit totschlagen mussten. Und es ist spannend, am Ende in einer kleinen Zusammenfassung des Autors Beobachtungen zur Entwicklung des Londoner Slangs zu lesen (mir zum Beispiel war es neu, dass dort schon Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts das Wort "fuck" so alltäglich war wie heute auf der ganzen Welt). Doch damit nicht genug. Der Autor widerlegt am Ende dann die allgemein gültigen Cliches über die "Nichtsnutze", die es in jeder Gesellschaft gibt und zeigt erste, vorsichtige Wege auf, auch diesen ein sinnvolles Leben zu ermöglichen. Denn er erkennt ganz deutlich, sicher auch aufgrund der eigenen Erfahrungen, dass nicht nur der Hunger einen Menschen in den Wahnsinn treiben kann. Auch die gezwungenermaßen für diese Männer vorgegebene sexuelle Enthaltsamkeit (kein Mann findet eine Frau, der es besser geht als ihm selber, denn diese sucht sich andere Männer!), sofern sie diese nicht durch eine Hinwendung zum eigenen Geschlecht zu umgehen in der Lage sind, stellt eine Qual dar, die keinem zugemutet werden sollte. Weder damals noch heute!

Doch die beeindruckendste Einsicht ist diese, dass Orwell ein wirklicher Freigeist war und nicht an festen Gedankenmustern festhielt: Wer "1984" oder "Die Farm der Tiere" gelesen hat und weiss, wie diese Bücher in der westlichen Welt gepuscht wurden, genau so wie sie im Osten verboten waren, könnte denken, dass Orwell ein Hasser des Sozialismus war. Doch war er nur ein Gegner der Diktatur, und zwar jeglicher Coleur. Denn dass er mit seinem hier vorliegenden Tatsachenbericht auch die derzeitige allmächtige kapitalistische Gesellschaft kritisiert, kann derjenige nachlesen, der das Buch nun findet (es wurde in Bournemouth in die Freiheit entlassen und nur 5 Minuten später von einer Passantin freudestrahelnd aufgelesen). Da darf man sich wohl nicht zu sehr daran stören, wie Orwell über die Juden herzieht, auch wenn es uns Deutschen doch hin und wieder das Blut in den Adern gefrieren lässt, welche Beschreibungen er für seine jüdischen Zeitgenossen bereit hält. Denn Eines sicher: Orwell hätte sich NACH Auschwitz zu solcherlei verallgemeinernden Herabwürdigungen nicht hinreissen lassen.

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