Montag, 5. September 2011

Der Klavierstimmer

ist ein ruhiges Buch, das schon ganz schön Zeit gekostet und nicht immer dazu verführt hat, mich in jeder freien Minute darauf zu stürzen.
Dennoch, oder gerade deshalb, habe ich es bis zum Ende gelesen und hatte dann bei den letzten Zeilen, dem unvermeidlichen Abschied der Liebenden („Du musst über die Straße, sagte er“. „Ja“ sagte sie“ und der Bus zum Flughafen ist hier entlang“. Sie küssten sich auf die Wange. „Salut“ sagten sie gleichzeitig) fast ein paar Tränchen in den Augen. So eine Situation wünscht man keinem, der liebt, wissend, dass sie tausendfach täglich überall auf der Welt real ist.

Aber meine große Liebe ist ja auch nicht meine eigene Schwester: Patrice und Patricia haben sich als Kinder und Jugendliche immer so gut verstanden, dass sie wussten, was der andere dachte, welche Gesten wann zum Einsatz kommen würden, wie der andere roch. Sie verbrachten sehr viel Zeit miteinander, teilten u.a. die Leidenschaft für’s Kino aber konnten mit Musik nichts anfangen. Ihr Vater war Klavierstimmer bei Steinway (der Eine mit dem perfekten Gehör) und komponierte in seiner freien Zeit 16 Opern. Keine wurde je aufgeführt, was
ihn immer verzweifelter werden lies. Bis dann endlich der Brief aus Monte Carlo kam, dass seine Oper vom Kolhaas den Preis gewonnen habe und aufgeführt werden würde. Er konnte ja nicht wissen, dass diesem Brief ein Erpressungsversuch seiner eigenen Frau, die vor Jahren ein Verhältnis mit dem jetzt in der Jury sitzenden weltbekannten Tenor hatte (welches im Übrigen die bereits erwähnten Zwillinge hervorbrachte, was der Vater zwar immer wusste aber niemals auch nur ansatzweise thematisiert hätte) zu Grunde lag. 6 Jahre zuvor waren die Zwillinge aus der Berliner Villa Hals über Kopf geflüchtet; nach einer gemeinsamen Liebesnacht die einzige Möglichkeit, sich aus dem Wege zu gehen und zu versuchen, ein wenig zu vergessen bzw. trotz der großen Anziehungskraft voneinander loszukommen.

Als der Vater im Gefängnis sitzt, da er angeblich den berühmten Tenor während der Aufführung erschossen hatte, treffen sich die beiden Geschwister im Elternhaus wieder und beschließen, ihre Erlebnisse und Gedanken, die sie während der langen Trennungszeit hatten, aufzuschreiben und dem anderen zu vermachen. Diese „Tagebücher“, voll von Erlebnissen, Gefühlen, Gedanken und Erklärungen, bilden das Buch, in dem sie immer wechselseitig
aneinandergereiht die ganze Geschichte der Familie bis hin zum Todesschuss
(der übrigens NICHT vom verbitterten Vater durchgeführt wurde) in der Berliner Oper und der darauf folgenden Aufarbeitung erzählen. Mich hat insbesondere im ersten Teil die große Nähe der beiden Geschwister berührt, die Vertrautheit, die Liebe.

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