Samstag, 3. September 2011

Freelander

Es gibt Bücher, da freut sich der Rezensent bereits während der Lektüre auf das baldige Verfassen seiner Kritik. Bei FREELANDER verhielt es sich genau gegensätzlich: Mir schwirrte beim Lesen so manches Mal der Kopf vor lauter kroatischen, serbischen, bosnischen und albanischen Wörtern, Ausspracheregelungen sowie geographischen und historischen Details. Welcher Mitteleuropäer weiß schon, wo genau die Grenzen der verschiedenen ehemaligen jugoslawischen Republiken verlaufen und vor Allem, welche Ethnien in welchem dieser Länder lebt (oder auch nicht mehr)? Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass von diesem Roman abgeraten wird. Im Gegenteil: Gut wäre es nur, sich zumindest kurz einen aktuellen Atlas zur Hand zu nehmen um sich mit der Lage dieser Staaten vertraut zu machen und sich kurz zu vergegenwärtigen, wo Zagreb und Sarajewo liegen. Denn zwischen diesen beiden Städten wird der Roman aufgesponnen; während einer Reise des etwas in die Jahre gekommenen Prof. Adum, die dieser antritt, um ein Stück vom Erbteil des fast hundertjährig verstorbenen Onkels abzubekommen (obwohl er fast davon überzeugt ist, dass die Einladung nach Sarajewo eher eine Falle ist denn ein Geldsegen, weshalb er sich eine Pistole besorgt, mit der er sich ungemein sicher und endlich den anderen überlegen fühlt). Während der Fahrt, kurz davor und in den Tagen nach dem Eintreffen in Sarajewo, wird nicht nur das Leben von Karlo Adum sondern ein ganzes Stück der „jugoslawischen“ Geschichte aufgespannt, in dem der Autor (der im Übrigen selbst in Sarajewo geboren wurde und nun in Zagreb lebt, ganz wie der Protagonist im Roman!) immer wieder zu Begebenheiten aus seinem verstrichenen Leben abschweift. So erfahren wir u.a., dass seine Mutter unter jeder Besatzungsmacht immer die „richtigen“ und wichtigen Männer fand und sich hundertprozentig mit einigen wirklich sehr gut „verstand“, während der Vater sich die nach einem Streit mit dessen Bruder (dem verstorbenen Onkel) verbliebenen 4 Finger blutig kratzte bis es nichts mehr zu kratzen gab. Und wir lesen während dieser Abschweifungen, warum der Professor als Junge Sarajevo in Richtung Zagreb verlassen musste und erkennen darin, dass dieses Herausgerissenwerden ihn lebenslang als heimatlos, staatenlos, als Freelander kennzeichnen wird. Und dass genau so im Übrigen auch die Jeeps genannt werden, die mittlerweile überall im ehemaligen Jugoslawien von ausländischen Soldaten gefahren werden (und dabei auch gern einmal einen alten Volvo von der Straße abdrängen und beschädigen, was nur der Anfang vom Ende des 30 Jahre alten, von Adum geliebten Wagens ist). Wunderbar zu lesen sind die bis ins kleinste Detail beschriebenen Restaurantbesuch des reisenden Professors (incl. kleiner philosophischer Einlagen die verschiedenen Ethnien und Kulturen betreffend) sowie die Schilderung eines von ihm spontan besuchten Fußballspiels und dessen köstlicher und balkantypischer Vorgeschichte.
Schön auch die von Adum aufgedeckten Lebensweisheiten, von denen der Autor meint, es gäbe nur 10 bis 15 solcher nackte Wahrheiten im Leben wie z.B.: „Nur ein altes Auto ist noch weniger Wert als ein alter Mensch“.
Wie anfangs schon angedeutet; es ist wohl kein Buch für jedermann und auch nicht für jederzeit. Mann muss eintauchen, sich ein wenig mehr Zeit nehmen und nicht einfach nur Seiten schrubben und sich bestenfalls ein klein wenig mit der heutigen und der vergangenen Balkangeographie und –historie befassen. Dafür wird man mit spannenden Einblicken, grotesken Geschichten und unglaublichen Begebenheiten belohnt. Was im Übrigen auch der Fall ist, wenn man den Geographie- und Geschichtsunterricht vor der Lektüre ausfallen und sich statt dessen vom Buch selber aufklären und einfangen lässt.

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