Ein
wichtiger Unterschied zwischen einem Blockbuster und einem richtig
guten Film ist, dass bei letzterem gern auch mal ein paar Fragen offen
bleiben dürfen. Dass man noch Tage damit beschäftigt ist, darüber
nachzudenken, mit Freunden diskutiert – sich einfach mitreißen lässt.
Und
genau dies zeichnet auch Benjamin Steins Roman „Die Leinwand“ aus.
Obwohl bei sorgfältigem Lesen und längerem Überlegen schon einige der
Handlungsknoten aufgelöst werden können, bleiben einige
Grundsätzlichkeiten doch völlig im Nebel der Unbestimmtheit verborgen.
Aber das ist nicht die einzige Begründung dafür, dass es sich hierbei um
einen ganz besonderen Roman handelt. Doch Halt! Der Plural ist hier
angebracht, denn im Grunde genommen sind es zwei Bücher, die in einem
gemeinsamen Einband daher kommen und verdreht bzw. gespiegelt gedruckt
wurden. So kann man die beiden Geschichten, die anfangs kaum Bezug
zueinander haben, auf verschiedene Weise lesen: Erst die aus der Sicht
des Jan Wechsler, jüdisch-orthodoxer Schriftsteller und Verleger, der in
München lebt und zu Beginn einen Koffer zugestellt bekommt, den er gar
nicht vermisst, welcher aber mit einem in seiner eigenen Handschrift
versehenen Adressanhänger versehen ist. Anschließend dann wendet man das
Buch und liest die Lebensgeschichte des Amron Zichroni, ebenfalls
orthodox lebender Jude, der die Gabe besitzt, die Gefühle und
Erlebnisse seiner Mitmenschen am eigenen Leibe nachempfinden zu können,
als wäre er selbst diese Person. Man kann aber auch nach jeweils einem
Kapitel der einen wieder zur anderen Erzählung hinüber wechseln. Fragen
entstehen ohnehin immer wieder, und erst gegen Ende, wenn beide
Geschichten schließlich in der Mitte des Buches zusammenfinden,
erschließen sich dem Leser die Gemeinsamkeiten und verbindenden
Elemente. Doch wird, wie eingangs bereits erwähnt, längst nicht alles
geklärt, was dem Werk indes keinen Abbruch tut.
Neben
der spannenden Handlung und der interessanten Idee zweier aufeinander
zulaufender Geschichten gibt es aber noch weitere Argumente, diesen
Roman als absolut lesenswert zu empfehlen: Legt der Leser beispielsweise
erst einmal seine Voreingenommenheit zur Orthodoxie beiseite, kann „Die
Leinwand“ ganz bestimmt dazu beitragen, die Gründe dafür, dass viele
Menschen (nicht nur religiöse) heute noch nach den Vorschriften der
Urväter leben, besser verstehen. Dazu muss man weder gläubig noch
jüdisch sein, sondern lediglich eine gewisse Offenheit mitbringen. Dann
kann es gelingen, den teilweise völlig unverständlichen oder mystischen
Bräuchen, Sitten und Verboten ein wenig näher zu kommen, und man ahnt,
dass gerade in dieser schnelllebigen und verrückten Zeit das Einhalten
bestimmter Vorschriften Sicherheit und Halt geben kann. Nun kann man zu
Religion stehen, wie man will, und Keinem ist es zu verübeln, wenn er
sich ganz von ihr abwendet, in Zeiten, in denen sich Bischöfe (wieder)
Paläste bauen und sogar buddhistische Mönche von ihrer Friedlichkeit
abrücken und Jagd auf Andersgläubige machen. Doch ist es schon
bezeichnend, wenn Amron Zichroni, der ja nun aufgrund der konservativen
Auslegung seines Glaubens weiß Gott einige Schwierigkeiten zu bewältigen
hat, die uns allen völlig fremd sind, den „Ewigen“ immer als Gütigen
erlebt und verstanden hat, während er im konservativen Christentum mit
Verboten, Strafen und Angst vor der Hölle konfrontiert wurde.
Wie
in den meisten Romanen so ist natürlich auch in diesem ein gutes Stück
Autobiographie enthalten. Die völlig unreligiöse Ostberliner Kindheit im
„kleinen Land“ etwa, die Hinwendung zum Judentum, der Umzug nach
München und vieles Andere verbinden die Leben Jan Wechslers und Benjamin
Steins. Dies macht „Die Leinwand“ zu einem authentischen Erlebnis, das
oft mit ungeahnten Sprüngen den Geist des Lesers verwirrt, aber auch
fesselt. Und wie recht häufig in der Literatur spielen auch hier andere
Bücher für die Geschichte(n) eine Schlüsselrolle, und so nutzt Stein
sehr geschickt die Kniffe des „Roman im Roman“: Es sind dies die
„Aschentage“, eine autobiographische Erzählung des Geigenbauers Minsky
(welche im Übrigen auf einem wahren Literaturskandal beruht, den
Binjamin Wilkomirski mit seiner angeblichen Auschwitz-Vergangenheit
seinerzeit auslöste) und die „Maskeraden“. Letzteres ist Jan Wechslers
heftige Antwort auf die „Aschentage“, in denen er Minsky der Lüge
bezichtigt und letztendlich dessen Leben zerstört, wie er sich später
selbst eingestehen muss.
Auch
wenn die vielen hebräisch-jüdischen Fachausdrücke im Text mitunter
etwas anstrengen, so sollte man sich ruhig die Zeit nehmen, während der
Lektüre hin und wieder das in der Mitte des Buches aufgeführte Glossar
zu nutzen. Das bereichert das Allgemeinwissen und trägt zum besseren
Verständnis bei. Und nach der durchaus auch vergnüglichen Lektüre dieses
Romans wird man sicher beim nächsten New-York-Besuch oder der kommenden
Israelreise mit einem wohlwollenden und wissenden Blick auf die
Schwarzhüte mit ihren Löckchen schauen. Was dann auch ganz im Sinne von
Lessings weisem Nathan wäre.
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