Sonntag, 9. Oktober 2011

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown

Was für ein wunderbares Buch! Ein richtiger Geheimtip, auch wenn er hiermit öffentlich gemacht wird. Endlich mal wieder eine Geschichte, die mich so richtig begeisterte, welche ich verschlungen habe. Und das Beste daran: Die Erlebnisse des Teddybären Henry N. (wie "nearly") Brown sind nicht etwa erfunden. Nein! Sie wurden dem Chef des Thiele-Verlages direkt vom Bären ins Ohr geflüstert. Und wer die Geschichte(n) liest, wird schnell erkennen, dass es sich keinesfalls um erfundene Begebenheiten handeln kann.

Henry, der 1921 im englischen Bath von Alice genäht wird und von nun an das Geschehen um ihn herum mit großer Intelligenz und sehr viel Einfühlungsvermögen beobachtet (etwas anderes bleibt ihm ja auch nicht übrig), spricht mir immer wieder aus der Seele. Ja, ich fühle mich ihm wirklich seelenverwand. Wie treffsicher, nachdenklich und liebevoll er von seiner 80 Jahre währenden Odysee durch halb Europa berichtet, dabei den Ersten Weltkrieg schrammt, den zweiten direkt beschreibt, die Nachkriegszeit in Deutschland beleuchtet, die Studentenunruhen Ende der 60er hautnah miterlebt, das sozialistische Ungarn besucht und schließlich fast dem Terrorismus-Wahn nach dem 11. September zum Opfer fällt, ist sehr plastisch und kurzweilig als Erstlingswerk von Helene Bubenezer niedergeschrieben worden, die damit ihrem Verleger, der ja kein Schriftsteller ist, einen großen Dienst erwiesen hat. Endlich wird in einem Roman gewürdigt, was Teddybären auf selbstlose Art und Weise für Kinder (aber auch für Jugendliche und Erwachsene!) leisten, in dem sie vor Allem Liebe und Trost spenden. Wie sagt Henry (der natürlich noch etliche andere Namen von seinen zahlreichen Besitzern erhält) doch so schön: "Jede Angst, mit der man mich drückt, ist so durchdringend, wie Furcht nur sein kann. Und von mir wird nicht weniger erwartet, als sie augenblicklich zu lindern und zu trösten. Mit hat nie jemand Theater vorgespielt, niemand hat mir je gefallen wollen (Anmerkung des Rezensenten: Das ist dann wohl das Geheminis der wahren Liebe!!!), niemand hat mich je belogen. Man muß schon ein Bär sein, um ehrliche Antworten zu bekommen - aber getröstet wird man nie."
Fast wäre dem armen Teddy diese unendlich große Liebe dann doch noch zum Verhängnis geworden, als beim Durchleuchten am Flughafen eben diese den Beamten auffiel und sie mit dem Teppichmesser anrückten. Aber das ist fast schon eine andere Geschichte, denn sie bildet sozusagen den Rahmen der Teddybärenreise.

Von Bath ging es mit dem Zug nach London, wo er Alice verloren ging. Henry kam in das große Haus der Zwillinge Lili und Leo Brown, wo er sich nach kurzer Eingewöhnungsphase überaus heimisch fühlte (kann das Zufall sein bei dem Nachnamen?), und mit denen er sogar bis nach New York reiste. Die wildesten Spiele und Erlebnisse hatte er dann mit Robert in Paris, bis die Deutschen einmarschierten von denen ihn einer fand (was den Bären dazu brachte, seine Vorurteile anderen gegenüber gründlich zu revidieren) und mit zu seiner Liebsten nach Deutschland nahm, bevor er nach Norwegen versetzt wurde, wohin der Bär ihn mit Marlenes Hilfe begleitete. Dort freundete sich die kleine Guri mit ihm an, durfte ihn aber nicht behalten, weil er in einem Paket zusammen mit anderen persönlichen Sachen von Fritz zurück nach Deutschland geschickt wurde. Auch dort meinte es das Schicksal während eines alliierten Bomebangriffes leider nicht so gut mit seiner Eigentümerin und so kam er zu deren Verwandschaft auf ein kleines deutsches Dorf, wo er endlich wieder zu Ruhe kommen konnte. Schlimme Zeiten erlebte Henry dann auf einem französischen Weingut, wo er nicht nur hilflos zuschauen mußte, wie seine kleine Besitzerin von ihrem Vater geschlagen wurde sondern wo er selber fast in einem Weinfaß ertrank, was die Mutter von Isabelle, bei der Henry die längste Zeit seines Lebens verbrachte und der er überaus nahe stand, dazu veranlaßte, ihn zu waschen und an den Ohren aufzuhängen (wahrscheinlich liegt in diesem dramatischen Ereignis ein wichtiger Grund meiner tiefen Verbundenheit mit Henry, mußte doch auch ich in meiner Kindheit eines Tages alle meine Kuscheltiere aufgehängt in meinem Zimmer vorfinden, was mich nachhaltig geprägt hat). Für Isabelle hat Henry in Rom als Mon Ami sein größtes Werk der Liebe vollbracht: Hier erkannte ihn der schöne Gianni wieder, als er in die Wohnung der Mädchen-WG kam, in der auch Isabelle ein Zimmer hatte, was allerdings auf Einladung von Francesca geschah. Noch bevor ein Unglück geschehen konnte (in diesem Fall: Ein Kuß oder noch größere Nähe bringende Taten hinsichtlich Francesca) verliess Gianni fluchtartig das Haus. Nun wusste er, dass seine geliebte Isabelle, die er Jahre zuvor in Florenz kennen- und lieben gelernt hatte und auf tragische Weise gleich wieder verlor, hier wohnte. Natürlich hatte Henry der Bär damals gleich gewußt, dass Gianni der Richtige für seine Isabelle war - Bärenintuition eben. Nachdem Gianni den Bären wiedererkannt hatte und geflohen war, dauerte es natürlich nicht lange, und die beiden waren ein Paar, heirateten und bekamen die kleine Giulia. Diese allerdings hatte eine so große Auswahl an Spielzeug, dass Mon Ami kaum mithalten konnte und schließlich in einer italienischen Pension "vergessen" wurde, wo er zwar eine neue Heimat fand aber seiner Aufgabe nur in begrenztem Umfang nachkommen konnte. So richtig schwer hatte es Henry dann in der Schweiz bei Laura und deren sich ewig streitenden Eltern, wo ihm wirklich Zweifel an der Menschheit kamen. In Budapest durfte er dann aber wieder voll und ganz Bär sein und die zarte, an Leukämie erkrankte Nina bis in den letzten und ewigen Schlaf hinein trösten, was ihm zwar einerseits gut tat aber auch (zum Glück nur fast) das Herz brach. Bei Ninas alter Großmutter in Wien verbrachte er dann noch einmal über 9 sehr ruhige Jahre bevor er nach deren Tod noch eine Weile im Schaufenster des Wiener Trödelladens stand, in dem ihn dann die Schriftstellerin (oder war es der Verleger selbst?) fand. Wäre diese nur nicht mit dem Flugzeug zurück nach Deutschland geflogen...!

 Welch beweges Leben! Beneidenswert. Bemitleidenswert.

Sind Teddybären eigentlich von "Geburt" an so weise oder erwerben sie, ähnlich uns Menschen, Erfahrungen, die sie prägen und ziehen daraus iher Schlüsse? Woher haben sie dieses unglaubliche Einfühlungsvermögen, was nur wenigen unserer Spezies innewohnt? Und wie schafft es Henry, so schnell in die Seele des alten Mannes auf der Überfahrt nach New York blicken, der sich selbst nicht versteht, dem das Leben Angst macht, der in sich selbst gefangen ist, Frieden sucht und sich wünscht, jemand würde ihn endlich verstehen. Zu ihm sagt der Bär: "Warum befreist Du Dich nicht?" Ja, Henry, wenn das so einfach wäre. Das müßtest Du als Bär doch wissen, dass man manchmal einfach nicht so handeln kann, wie man will. Du hast das selbst erkannt, Du fühlst wie der alte Mann, wie noch einige andere Menschen auf dieser Welt, Du verstehst sie. Sehr passend Deine Antwort auf des alten Mannes Lebensfragen: "Wir sitzen im gleichen Boot". Nicht mehr lange, leider...

Neben dem Nicht-Sprechen und Sich-nicht-bewegen-können unterscheidet den Bären ein weiteres Handicap von uns Menschen: "Ein Bär weint nach innen". Nein, leicht habt Ihr Teddys es wirklich nicht immer. Was uns dann doch wieder eint. So geht es Euch wie uns mit dem Glück: "Ich war glücklich. Und es war ziemlich anstrengend, glücklich zu sein, denn prompt bekam ich Angst, dieses Glück könnte enden. So ist das mit dem Glück, es ist eine flüchtige Angelegenheit." Laß dir gesagt sein, Henry, der Augenblick macht das Leben aus. Genieße ihn jetzt, denke nicht zu sehr an das Morgen. Lebe (oh: Entschuldigung) heute!


Bei allen Gemeinsamkeiten, die ich zwischen Henry und mir entdecken konnte (und es waren erschreckend - oder sollte ich besser sagen Gottseidank! - viele), eines unterscheidet uns dann doch: Henrys Abscheu gegen Katzen. Verdenken kann ich es ihm nicht, wurde er doch gleich nach seiner Entstehung bei Alice von deren Katze malträtiert und attackiert (ohne sich wehren zu können) und mußte noch oft als Spielball bzw. Kratzbaum diverser Katzentiere herhalten, während ich immerzu ein lautes Schnurren im Ohr hatte, als ich seine Geschichte las und Tiger warm auf meinen Oberschenkeln fühlte. Sei's drum. Henry, wir wären zwei wirklich gute Freunde gewesen, hätten Dich die Launen des Zufalls in meine Hände getragen. Aber zum Glück gibt es ja auch noch andere Menschen die so ticken wie Du und ich, lieber Henry N. Brown. Wofür ich sehr dankbar bin.

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