Samstag, 3. September 2011

Liebespaarungen

Für diese engbedruckten 580 Seiten muss man schon ein wenig mehr Zeit einplanen, wenn man nicht gerade einen herrlich ruhigen und ereignislosen Urlaub dazu verwenden kann, das Buch in knapp 3 Tagen zu lesen. Denn eigentlich ist es nicht nur ein Buch, es sind zwei. Sie erzählen beide wechselseitig die Geschichte(n) von Irina, der in Amerika aufgewachsenen, russischstämmigen Buchillustratorin, die mit ihrem recht langweiligen aber gutmütigen Mann Lawrence (der sie nie offiziell geheiratet hat) in London lebt. Es handelt sich um zwei Geschichten, weil Irina eines Tages vor einer wichtigen Entscheidung steht, als sie nach einer netten Geburtstagsfeier und einem kleinen Joint mit Ramsey, dem gutaussehenden Snooker-Profi, das unbändige Bedürfnis verspürt, diesen leidenschaftlich zu küssen. Durch diesen Kuss verändert sich ihr Leben, will doch Ramsey keine Affäre sondern eine ihn liebende und begehrende Frau, die ihn zu seinen vielen Tournieren begleitet und unterstützt. So dauert es nicht lange und Irina trennt sich schweren Herzens von Lawrence, der ihr mit einem Hundeblick hinterher schaut, als sie ohne Koffer oder andere persönliche Gegenstände zu Ramsey in ein Nobelhotel zieht und sich dort mit ihm „die Seele aus dem Leib“ vögelt. Das hat sie einfach nach fast 10 Jahren eintönigem Sex mit Lawrence gebraucht (er immer auf der Seite liegend hinter ihr und sie den Blick zur Wand gerichtet, wobei ihr einige Phantasien sehr erfolgreich dazu verhalfen, regelmäßig zu kommen) und so genießt sie dies voll und ganz, trotz häufiger wilder Streitereien mit dem eifersüchtigen Ramsey, die sie zwar ab und zu an der Richtigkeit ihrer Entscheidung zweifeln lassen, die aber letztendlich wohl zu einer leidenschaftlichen Beziehung dazugehören. Leider nur, das wird ihr bald klar, gehört zu einer Beziehung noch ein wenig mehr, und die langweiligen Abende mit seinen Snooker-Kollegen an den verschiedensten Hotelbars weltweit öden sie sehr schnell an, schließlich gibt es dort wirklich nur ein einziges Thema. Außerdem geht Ramsey viel lieber essen, statt sich von ihr einfallsreiche Gerichte kochen zu lassen, was ihr immer Freude und  Bedürfnis war, und aufgrund der vielen Reisen hat sie keine Zeit mehr, ihrer künstlerischen Arbeit nachzugehen. Zwar hat sie dann doch noch einen späten Erfolg vorzuweisen, kann diesen aber wegen der Streitereien mit Ramsey gar nicht richtig genießen. Als dann noch Geldsorgen hinzukommen (Ramsey hat wohl seine ganzen Millionen verzockt) und Prostatakrebs im letzten Stadium diagnostiziert wird, ist das Ende nahe, und das einzig wirklich verbindende Element, die extreme körperliche und sexuelle Anziehungskraft, kann nur noch einmalig durch eine blaue Wunderpille ausgelebt werden.
Was nun jedoch passiert wäre, wenn sie ihrem Verlangen nach einem Kuss nicht nachgegeben und statt dessen brav nach Hause gegangen wäre, das wird, verschachtelt in die eben beschriebene Version, parallel zu dieser berichtet: Sie liebt ihren Lawrence, den Terrorismusforscher, trotz dessen seltsamer Verhaltensweisen (Gesprächen über neue Stellungen beim Sex verweigert er sich ebenso wie der Frage nach einer richtigen Hochzeit, so wie er im Prinzip allen wichtigen Diskussionen aus dem Weg geht). Der Leser ahnt es schon Jahre vor Irina, die vor Liebe blind ist und ihn erst dann, als selbst ihr die offensichtlichen Anzeichen nicht mehr entgehen und sie ihn endlich darauf anspricht: Der brave, treue Lawrence hat seit Jahren ein Handy! Und zwar, um damit jederzeit Bethany, seine sexy Kollegin mit den „nuttigen“ Klamotten anrufen und Absprachen für geheime Treffen verabreden zu können. Nach dem Streit gibt es zwar noch ein letztes mal den gewohnten Sex aber am nächsten Morgen geht Lawrence, ohne Koffer oder andere persönliche Gegenstände, zu Bethany (mit der er im Übrigen, so wird es ganz am Ende klar, auch nicht auf Ewig zusammen bleiben wird).
Und genau hier liegt einer der Reize des Buches: Immer wieder tauchen bestimmte Verhaltensmuster, Abläufe und Geschehnisse in beiden Geschichten auf, die zwar teilweise anders verlaufen oder von anderen Personen erlebt werden, aber den Betrachter immer wieder wissend lächeln lassen, weil er das so oder ein wenig anders bereits gelesen hat. Etwa wenn Irina und Ramsey, betrunken im Flugzeug nach New York, unter der Flugzeugdecke rumfummeln, dass es keinem entgehen kann und ohne dass es sie einen Dreck stört, und später dann, in der anderen Geschichte, sich Lawrence laut darüber beschwert, dass zwei Mitreisende unter der Decke so laut stöhnen (was Irina eher neidisch auf das Paar blicken lässt, statt sich darüber zu echauffieren).
Aber das Buch hat noch mehr zu bieten, es regt nämlich zum Nachdenken über das Leben und dessen wichtige Entscheidungen an. Was ist richtig und was ist falsch? Ist es im Prinzip egal, wie wir uns in einer bestimmten Situation entscheiden? Sind Sicherheit und Gewohnheit nicht der verführerischen Wildheit des Neuen vorzuziehen? Oder ist es genau umgekehrt?
Darauf gibt dieses Buch keine Antwort. Denn obwohl die aus ihrem bürgerlichen Leben ausgebrochene Irina ihren todkranken Ramsey liebevoll pflegt und ihm versichert, dass sie ihn trotz allem heute wieder genauso küssen würde wie damals, bleibt ein bitterer Beigeschmack, weil sie sich die ganzen Jahre über immer wieder nach ihrem alten, gemütlichen und sicheren Leben sehnt (und sogar manchmal heimlich in die alte Wohnung zurückkehrt, nur, um sich zu erinnern) und am Ende doch allein da steht (was sicherlich auch ohne Ramseys Erkrankung geschehen wäre). Da jedoch die Entscheidung, bei Lawrence zu bleiben und über alle ihre Beziehung betreffenden Probleme hinwegzusehen, anscheinend auch nicht die richtige war und sie auch hier am Ende alleine dasteht, könnte das Buch suggerieren, dass jede Entscheidung die Falsche ist. Das dem nicht so ist, müssen wir selbst in Erfahrung bringen.

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